Predigt zum Shoa-Gedenkgottesdienst, 29.1.2012 (Fabian Sborovsky)

Wie Sie wahrscheinlich wissen, wird die Torah — die Fünf Bücher Mose — im Verlauf eines Jahres in der Synagoge einmal ganz durchgelesen. Das ist ein sehr alter Brauch, der von Esra nach der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft eingeführt wurde, also im 6. oder 5. Jahrhundert vor unserer Zeit. Der Zyklus der wöchentlichen Lesungen ist festgelegt und in diesen Wochen lesen Juden überall auf der Welt das Buch Schemot oder Exodus, wie es auf Latein genannt wird.
Das Buch Exodus erzählt von der physischen und spirituellen Geburt Israels als Volk. Es enthält Geschichten von Versklavung und Befreiung, die die nationale Gottesverehrung prägen. In diese großartige Erzählung eingewoben ist der Bericht über eine ungewöhnliche Heldin, deren Taten Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit versinnbildlichen, ohne die das Gedenken an die Shoah eines entscheidenden Rests von Glauben an die Menschlichkeit entbehrte. Aber um sie vorzustellen, lassen Sie uns zurückgehen, um den Kontext und den Anfang des Buches Exodus zu betrachten.
Es beginnt mit den Kindern von Jaakow/Jisrael, die sich in Ägypten angesiedelt hatten, als Joseph das Land vor der Hungersnot errettete. Sie wurden dort willkommen geheißen und wuchsen von einer Familie zu einem großen Volk heran. Aber ihre Zunahme wurde nicht nur wohlwollend gesehen. Die Bibel erzählt uns in Exodus 1:8-10:

(8) Da erstand ein neuer König über Mizrajim, der von Josef nichts wusste. (9) Und er sprach zu seinem Volke: Siehe, das Volk der Kinder Jisrael ist zahlreicher und stärker als wir. (10) Wohlan, lasset uns dasselbe überlisten, dass es sich nicht vermehre, und es geschehe, wenn Krieg eintrifft, dass auch es sich schlage zu unseren Hassern und gegen uns streite und aus dem Lande ziehe.

Es ist an dieser Stelle das erste Mal, dass die Bezeichnung “Am” (“Volk”) in Bezug auf die Kinder Israel gebraucht wird. Der ägyptische Pharao fürchtet sie als einen neuen und mächtigen Gegner, darum versklavt er sie, macht ihr Leben bitter und erlässt sogar ein Dekret, dass alle männlichen Neugeborenen der Israeliten getötet werden sollen.
Vor diesem Hintergrund wendet sich die Erzählung nun der Geburt und dem Schicksal des jungen Mose zu, dem Mann, der Israel aus dem Sklavenhaus führen wird. Seine Kindheitsgeschichte macht uns mit unserer unerwarteten Heldin bekannt, ohne die Moses nicht überlebt hätte — und die ganze Geschichte vom Exodus könnten wir dann heute nicht so erzählen. Es war Pharao, der die Kinder Israel unterdrückt hatte, und es war ein anderes Mitglied seiner Familie, Pharaos Tochter, die den entscheidenden Rest von Hoffnung rettete.
Die Geschichte von Moses Geburt als Sohn hebräischer Sklaven und seiner Rettung aus dem Nil ist vielleicht eine der bekanntesten der Bibel. Fragen Sie ein Kind, das Disneys “Prinz von Ägypten” gesehen hat und es wird die ganze Hollywood-Story erzählen können.
Die Torah erzählt uns, wie die Mutter des hebräischen Knaben nicht länger in der Lage war, den ägyptischen befehlen zu widerstehen und ihr Kind weiter zu verbergen. So nahm sie für ihn ein Schilfkästchen, machte es wasserdicht, legte das Kind darin ab und setzte das Körbchen in das Schilf am Ufer des Nils. Pharaos Tochter ging, um im Nil ein Bad zu nehmen, während ihre Gespielinnen am Ufer entlang spazierten. Sie sah das Kästchen im Schilf und wies eine Dienerin an, es zu holen. Als sie es öffnete, sah sie den Jungen. Das Kind begann zu weinen und sie hatte Mitleid mit ihm. „Von den Kindern der Hebräer ist dies!“, sagte sie und rettete ihn.
Aber die Schlichtheit, in der diese Geschichte erzählt wird, verdeckt den erstaunlichen Umstand dieser Begegnung. Man achte auf die Reihenfolge: Zuerst sieht sie, dass es sich um ein Kind handelt und erbarmt sich seiner — eine natürliche, menschliche, mitfühlende Reaktion. Erst danach dämmert ihr, was es mit dem Kind auf sich haben könnte. Sie erinnert sich an das Dekret ihres Vaters gegen die Hebräer. Das Baby retten verlangt also, sich gegen einen königlichen Befehl aufzulehnen. Obendrein ist sie nicht allein, als sich das alles ereignet. Ihre Gespielinnen sind mit ihr, ihre Dienerin steht neben ihr. Sie muss also das Risiko eingehen, dass jemand etwas davon verrät.
Aber sie ist nicht wankelmütig. Mit dem Mut ihres Mitleids ruft sie aus: Von den Kindern der Hebräer ist dies! Und rettet ihn ohne zu zögern.
Der bekannte Bibelkommentator und liberale Rabbiner, Benno Jakob, merkte dazu an:

Das Bewunderswerte aber an dem Verhalten der Tochter Pharaos, was sie zu einer der verehrungswürdigsten Frauengestalten macht, ist nicht die Empfindung des Mitleids (vatakhmol) welches Gefühl jedes Weib mit ihr teilen würde, sondern sind die Worte (vatomar), in denen sie ihm Ausdruck gibt: Von den Kindern der Hebräer ist dies! Eines von den vielen, denen der Tod angedroht ist, von den Kindern der Hebräer! Sie denkt nicht nur sogleich an das ganze geknechtete, dem Versinken nahe Volk, von deren Leiden sie eine mitfühlende Zeugin war; sie; die Tochter des Verfolgers, hat auch den Mut, es auszusprechen und das Kind auf ihre eigene Verantwortung und unter ihrem Patronat wieder in hebräische Arme zu legen, welcher Mut, sich zu den Bedrückten zu bekennen, der gerade bei den gesellschaftlich oder geistig Hochstehenden so unendlich selten ist. Man beachte die Wortstellung in diesem nur aus drei Worten bestehenden Satze (מִיַּלְדֵי הָעִבְרִים זֶה).

Die Tochter des Pharao hatte nicht nur einen momentanen Anflug von Mitleid. Sie sandte das Kind zu einer hebräischen Amme. Über den Lauf der Zeit vergaß sie das Kind nicht und ihr Verantwortungsgefühl nahm nicht ab. Als das Kind alt genug war, adoptierte sie es als eigenen Sohn und nannte ihn Moses, eine Ableitung aus der hebräischen Wurzel משה — “weil ich ihn aus dem Wasser gezogen habe”.
Wegen ihrer Taten wird sie in der jüdischen Tradition zu einem Symbol für die Gerechten der Völker geworden. Man braucht nicht weiter als bis in die jüngste Vergangenheit zurück zu schauen, um die große Bedeutung ihrer Geschichte zu begreifen.
Im Talmud heißt es:

Wer das Leben eines einzigen Menschen zerstört, ist als hätte er eine ganze Welt zerstört. Und wer das Leben eines einzigen Menschen rette, ist als hätte er eine ganze Welt gerettet.“ (Mishnah Sanhedrin 4:5; Babylonian Talmud Tractate Sanhedrin 37a)

In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gibt es eine Allee, die den Gerechten der Völker gewidmet ist. Die Tochter des Pharao ist das Urbild für das, was sie taten und was sie waren. Das Beispiel von Pharaos Tochter zeigt, wie Tyrannei nicht die Menschlichkeit zu zerstören vermag. Manchmal findet man moralischen Mut inmitten von Finsternis und dann beweist sich, dass Werte wie Menschlichkeit, Mitempfinden, Mut wahrhaft universale Werte sind.
Während wir die Gerechten der Völker ehren, die mit einem einzelnen Menschenleben eine ganze Welt gerettet haben, bleibt es doch auch eine bittere Tatsache, dass diese zahlenmäßig doch nur als kleiner Bruchteil der Zahl derer gegenüberstehen, die ermordet wurden. Die übergroße Mehrheit waren Juden, aber auch Roma, Homosexuelle, politisch Oppositionelle, Zeugen Jehovas und andere.
Heute sind wir hier, um der Millionen zu gedenken, die umgebracht wurden, zum Tode verurteilt, allein weil sie Juden waren. Millionen von Menschen, die täglich um ihr Leben und um das ihrer Familien kämpften, verraten von ihren Ländern, Nachbarn, fern jeder Menschlichkeit. Sie litten unaussprechliches Leid, starben namenlos und in so großer Zahl, dass unser Menschenverstand es nicht begreifen kann.
Aber hinter jeder Zahl steht eine Person, ein Mensch, der lebte, liebte und einen Alltag hatte, der dem unseren gar nicht so unähnlich ist. Das Gedenken an sie ist fern und abstrakt, wenn es sich dabei um eine anonyme Statistik handelt; aber es ist eben auch so nah, wie die engere Familie meiner Großmutter, so vertraut wie die Fotos, mit denen ich aufgewachsen bin. Ihre Namen und Anschriften stehen noch auf den Briefumschlägen, die kostbare Nachrichten und Grüße an die ferne Familie, an meine Familie, enthielten.
Niemand in der Familie meiner Großmutter, außer ihr selbst, überlebte den mörderischen deutschen Einmarsch. Ich glaube, es gab keinen einzigen Tag, an dem sie nicht an ihre Lieben dachte und sich fragte: Warum? Warum ist das geschehen? Warum ihnen? Warum den anderen? Zielt heilt nicht alle Wunden.
Die Fragen sollten in uns weiter klingen, und erst recht in uns Menschen, die einen Glauben haben. Manchmal kommen Menschen zu uns, weil sie hoffen, dass wir ihnen vielleicht helfen können, bei Gott eine Erklärung zu finden. Können wir aber irgendeine theologische Antwort für diese schreckliche Geschichte geben, und sollten wir das überhaupt?
Es ist die theologische Frage danach, warum Gerechte leiden. Oder andersherum: Warum erlaubt ein liebender Gott solches Leid? Das ist nicht neu. Es ist eine uralte Frage und das bestimmende Thema im Buch Hiob, der uns von der Bibel als ein außerordentlich gerechter Mann geschildert wird, der größtes Leid erfahren musste und auf eine Erklärung Gottes für sein Schicksal verlangte. Auf seiner Unschuld beharrend, wies er darauf hin, dass dieses Leiden nicht gerechtfertigt sei, denn er habe nicht gesündigt, und dass es keinen Grund für Gott gäbe, ihn so zu strafen. Er klagte Gott nicht der Ungerechtigkeit an und er verfluchte nicht Gottes Namen, aber er suchte nach einer Erklärung.
Hiobs Freunde hingegen waren nicht von ihrer Überzeugung abzubringen, dass Hiob gesündigt haben musste, um diese Strafen Gottes auf sich zu ziehen, und sie drangen in ihn, sich doch zu seinen Sünden zu bekennen, die ihnen allerdings auch nicht offenbar waren. In ihrem Glaubensverständnis belohnt Gott die Guten und bestraft die Bösen, ohne jede Ausnahme.
Schließlich wendet sich Gott selbst an Hiob. Seine Rede gibt aber keine direkte Antwort, sondern hebt die menschliche Begrenztheit hervor wie auch die Souveränität Gottes beim Schaffen und Erhalten der Welt, etwas das über unser Erkenntnisvermögen hinausgeht. Auch zum Schluss kennt Hiob nicht den Grund seines Leidens, aber was für uns wichtiger ist, dass Gott die Freunde Hiobs kritisierte und sagte: „Ihr habt nicht zu mir geredet so aufrichtig, wie mein Knecht Hiob“. (Hi. 42:8).
Die Geschichte von Hiob ist schwierig und ungewöhnlich, und doch ist sie genau deshalb ein Teil der Hebräischen Bibel. Sie präsentiert eine Theologie, die unsere Erwartungen herausfordert und auf unsere menschliche Begrenztheit verweist. Sie enthält die Botschaft, dass Hiob bei all seinen Fehlern ein bemerkenswertes Vorbild für Gerechtigkeit und Glaube ist. Er war ein Täter der Gerechtigkeit, und wir sollen es ihm gleich tun.
Es ist Teil unseres Mensch-Seins, dass wir auf viele Fragen keine Antwort haben. Ich möchte gern glauben, dass diese menschliche Erfahrung folgendem Satz zugrunde liegt:

Bete, als ob alles von Gott abhinge, aber handle, als ob alles von dir abhinge.

Heute beten wir und gedenken der Opfer der Shoah. Wir erinnern uns an sie. Was uns miteinander verbindet — uns alle als Nachfahren von Gerechten der Völker, von Opfern, von Zuschauern und von Tätern — ist, dass wir Menschen sind. Und wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass kein Gedenken jemals sinnvoll sein kann, wenn es uns nicht gelingt zu verhindern, dass so etwas wieder geschieht — gleich an welchem Ort und an welchem Volk.
Möge das Beispiel von Pharaos Tochter und der Gerechten der Völker uns in dem Mut bestärken, das Richtige zu tun und unsere moralische Partnerschaft mit dem Schöpfer zu beweisen, denn nur auf diesem Wege werden wir das Andenken der Opfer der Shoah ehren und unserem gemeinsamen Mensch-Sein als Ebenbild Gottes gerecht werden.
Fabian Sborovsky