Hesekiel

Predigt zu Hesekiel 34, 1–16,31

Prädikant Dr. Christian Homrichhausen, 18.4.2021 (Sonntag Misericordias Domini)

Die Gnade Gottes, die Liebe seines Sohnes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Liebe   weiterlesen

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

der heutige Predigtext besteht aus einer Versauswahl aus dem 18. Kapitel bei Ezechiel. Ich lese:

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. (…) 20 Denn nur wer sündigt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugute kommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen. 21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. 23 Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? 24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben. (…) 30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

I

Liebe Gemeinde,

einen alttestamentlichen Text über die Sünde zu predigen, kann man leicht, indem man ihn einfach gegen Paulus ausspielt. Und gegen Jesus, gegen Christus, gegen seinen Kreuzestod zur Vergebung der Sünden. Nur wäre dies dann wohl eine Predigt, aber keine christliche Predigt. Indem ich also über den Prpheten Ezechiel predige, muß ich zugleich auch über Paulus sprechen, und über Jesus. Die Predigt wird vielleicht etwas länger heute, aber ich hoffe, Sie und Ihr folgt meinen Worten gern und mit Gewinn.

Kanzelgruß

II

Liebe Gemeinde,

gestern vor zwei Wochen, irgendwo im Busch vor den Toren meiner Heimatstadt, irgendwo vor den Toren der Stadt Oldenburg. Fuffzigster Geburtstag meines alten Schulkameraden Klaus. Dreißig Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen und auch kaum voneinander gehört, seit dem Abitur. Nun hatte er mich eingeladen, andere alte Schulkameraden und -freunde auch, Florian, Haimo, Uwe, Oliver, Holger – wie sie alle heißen; wir waren eine Jungsschule damals. Also warf ich meinen Schlafsack ins Auto, die Musiksammlung aus der Zeit damals auch. Ein Wiedersehen nach einem Menschenalter! Das war schon bewegend. 1978/2008; 30 Jahre. Man gewöhnt sich an das veränderte Aussehen der anderen. Man erzählt und hört die Werdegänge. Irgendwann dann – in diesem Falle: eher früher als später – werden natürlich die alten Geschichten rausgeholt bei einem solchen Wiedersehen. Die komatösen Trunkenheitszustände, die Schulstreiche und -betrügereien, aller pubertärer Unfug überhaupt, wer wem warum die Freundin ausgespannt hat, usw. usf.. Nichts war vergessen; nichts von dem, was wir erfolgreich vor unseren Eltern verborgen hatten, war im Dunkel der Vergangenheit versunken, unter uns Schulfreunden. Erstaunlich, was sich aus unseren menschlichen Festplatten auch nach Jahrzehnten wieder hervor holen läßt – und was sich auch nach langen Jahren dem anderen – wenngleich unter milder Heiterkeit und viel ausgelassenem Gelächter, aber doch! – vorhalten läßt.
„Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden.“, lautete das Sprichwort, welches der Prophet zitierte.
Nun, zunächst ist wahr: „Zunächst (oder in der Jugend) haben sie saure Trauben gegessen, später dann – und sei es auch nach langer Zeit – Alter sind ihnen die
Zähne davon stumpf geworden.“ Es vergibt sich viel, aber es vergisst sich nichts. Und das ist (vielleicht) auch ganz gut so.

III

Und dann einer der Höhepunkte des Wochenendes, die Festansprache des Vaters. Weit über die 70 Jahre wird er ja sein müssen, vielleicht auch hoch in den 80ern, aber wie bei vielen seiner Altersgenossen mit bestem körperlichen und geistigem Zustand. War er vielleicht noch Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen? Ein bißchen wirkte er so: Kontrolliert, diszipliniert, militärisch.
„Du weißt Klaus, wie kritisch ich über die Kirche denke“ , sagte er dann zu seinem Sohn, und begann dann mit unbarmherziger Akribie die Verbrechen der Kirche aufzuzählen, Jahrhundert nach Jahrhundert gewissermaßen, die Konfessionskriege, zuvor die Kreuzzüge, selbstverständlich, die Kolonialzeit.
Die kirchlichen Verbrechen des 20.Jahrhunderts vergaß der Vater freilich. Die Preisgabe der Juden. Die Preisgabe der psychisch Kranken an den Feind. An Hitler. Sogar die Kinder in kirchlichen Einrichtungen ließen die Kirchen von den Nazis ermorden, wissentlich.
Dies alles vergaß der alte Herr. Wohlweislich, denn dann hätte er endgültig die Frage die Frage nach seinem eigenen Bezug zu den Verbrechen der Vergangenheit stellen müssen, nach seinem eigenen Bezug zur Sünde. Es waren ja nicht alles Priester, Kirchenfunktionäre, welche im Mittelalter in Jerusalem und Palästina und so weiter lustvoll marodierten, sondern Söhne und Töchter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aus allen Züften und Ständen. Es war auch nicht der Führer, welcher die nationalsozialistischen Verbrechen verübte, sondern Söhne und Töchter aus allen Gauen des Deutschen Reiches. Es waren unsere Vorfahren, die in die Kreuzzüge zogen, in den zweiten Weltkrieg.
So hat sich Ezechiel das natürlich nicht vorgestellt; Tabula rasa, Stunde Null, schlagen wir eine neue Seite auf, natürlich nur für uns, nicht für die anderen. Jeder neue Tag, jeden Tag eine neue Seite der Geschichte, nur für uns, nicht für die anderen? Denn was ist mit uns, mit uns? Wir alle sind in eine mörderische Auseinandersetzung um Energie, Wasser, Wohlstand verwickelt. „Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagte Jesus den Henkern, welche zur Hinrichtung eines Menschen ansetzten.
Ich saß also wie auf heißen Kohlen, Klausens Vater zuhörend. Als Mann der Kirche. Einerseits finde ich es unfair und selbstgerecht, wenn ausgerechnet Deutsche sich zum Richter über die Kirche aufschwingen.
Ausgerechnet die Nachfahren des Volkes, in dessen Namen und unter dessen Mitwirkung Massenverbrechen durchgeführt wurden. Ausgerechnet die mit dem Balken im eigenen Auge gehen her, um den Splitter im Auge des anderen auszumachen?
Andererseits bin ich selber empört über alles, was im Zeichen des Kreuzes verübt wurde, anhaltend empört.

IV

Und wiederum andererseits fürchte ich, dass die selbst die strengsten Urteile über die Kirche und die Welt noch immer zu „gnädig“ sind. Und die Aussichten oder Einschätzungen für die Zukunft zu optimistisch. Dass sich ausgerechnet unsere Kirche gegen Unmenschlichkeit entgegenstemmen könnte, wenigstens in Zukunft, wenn denn schon nicht in der Vergangenheit … – ich würde es ja gerne hoffen. Allein: Für sehr wahrscheinlich halte ich dies nicht. Vorsichtig formuliert. Ich sage das hier so, damit Euer Glaube wetterfest sei. Ein Christ, sagte Luther, und der wußte hier, was er sagte, ist ein seltener Vogel.
Warum halte ich dies nicht für wahrscheinlich? Theologisch betrachtet, weil zwar unsere Kirche immer lautstark behauptet hat, zur Sündenlehre des Apostel Paulus zu stehen. (Jetzt heute noch in einer Presseerklärung der lutherischen Kirchen der EKD: „Wir stehen zur Rechtfertigungslehre.“) Nur: Sie hat dies aber nicht getan, nie getan. Nie, wenn es darauf ankam. Nie, wenn nationalsozialistischen, kommunistischen oder anderen selbst ernannten Lichtfiguren daran gingen, andere Menschen zu kujonieren. Sie tut dies auch heute nicht.
Ist die Kirche ein Hort derer, die sich ein neues Herz, einen neuen Geist gemacht haben? Ist sie als solcher Hort bekannt? Sie ist dies nicht. Offenbar nicht, denn ansonsten sähe die Welt heute anders aus, sehr anders.
Worum, liebe Gemeinde, geht es hier, bei der sogenannten „Rechtfertigungslehre“, bei der Sündenlehre? Die Lehre, Sündenlehre, Menschenlehre des Paulus besagt, dass alle Menschen Sünder sind. Alle und ohne Ausnahme. Alle sind wir der Gnade Gottes bedürftig, alle und ohne Ausnahme.
Dazu lese ich einige Verse aus Römer 3.

Denn wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind, 10 wie geschrieben steht: »Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. 11 Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. 12 Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer (Psalm 14,1-3). 13 Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen betrügen sie (Psalm 5,10), Otterngift ist unter ihren Lippen (Psalm 140,4); 14 ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit (Psalm 10,7). 15 Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; 16 auf ihren Wegen ist lauter Schaden und Jammer, 17 und den Weg des Friedens kennen sie nicht (Jesaja 59,7-8).

Ich denke, das ist deutlich und gehe nun von Paulus zu Ezechiel weiter.

V

Sicherlich ist es auch für Euch sofort augen- oder ohrenfällig: Die Auffassung des Paulus, wonach der Mensch sündig sei, im Sinne von völlig der Sünde verfallen, unterscheidet sich deutlich von der Auffassung des Propheten Ezechiel. Dies hat seinen Grund darin, dass Ezechiel in der Zeit des Exils predigte, des Exils Israels in Babylon im 6. Jahrhundert vor Christus. Die Exilierten fühlten sich ausgelaugt durch das Exilsgeschick, eines nicht mehr auf ihnen, sondern der Vorfahren zu verantwortendes Geschick. Gott schien ihnen zum Feind geworden, sie hielten oder schienen sich selber als Leichen auf Urlaub (kann man so sagen): alles wegen der Verbrechen der Väter. Entsprechende Sprichworte hatten sich herausgebildet; eines davon führt Ezechiel bzw. Gott vor; ich habe es eingangs dieser Predigt zitiert.
Wie verhält sich Ezechiel nun, wie verhält sich also Gott nun in dieser Situation?
Wir hören: Den Söhnen sollen nicht die Zähne davon stumpf werden, dass ihre Väter saure Trauben gegessen haben. (Oder sie diese auch, als billiger Wein vergoren, im Komatrinken vertrunken haben, füge ich mit Blick auf meine Jugend hinzu.) Das bedeutet: Gott schafft zwar nicht die Kollektivschuld ab – was die Deutschen bis heute versuchen. Aber er schafft die generationenübergreifende Kollektivschuld ab.

VI

Kollektiv, Kollektivschuld, Kollektivunschuld.
Von Hause aus denkt ja – was gerade unsereiner einfach nicht in den Schädel möchte – die altestamentliche Theologie ja kollektiv und nicht individualistisch. Nichtder einzelne Mensch, sondern das Volk Israel ist der Bundespartner Gottes. Nichtder einzelne Mensch ist in der erster Linie aufgerufen, nicht die Ehe zu brechen – um eines der Zehn Gebote als Beispiel zu nehmen – sondern die Allgemeinheit, sondern also das Volk Gottes ist dazu aufgerufen, den Ehebruch in seiner Mitte nicht aufkommen zu lassen oder ihn wieder zu verdrängen. Bei Ezechiel erleben wir, wie dieses kollektive Denken langsam
aufgebrochen wird. Oder vielmehr: Wir erleben, wie es langsam aufbricht und wie es zwangsläufig aufbricht.
Die Identität des Volkes Israel über die Generationen hinweg wird zwar nicht aufgehoben. Sie wird aber doch eingeschränkt. Denn es war notwendig geworden, zu sagen: Die Söhne sollen nicht die Suppe der Väter auslöffeln müssen. Daher auch: Der Sohn soll nicht die Suppe des Vaters auslöffeln müssen.
Es ist deutlich: Der Prophet spricht nicht als Dogmatiker hier, schon gar nicht als Logiker; er spricht vielmehr als Seelsorger. Logisch ist an seinem Vortrag wenig, aber er ist dennoch wahr, weil er seelsorgerlich wahr ist. Er will die Leute – retten – sagen wir es ruhig so. Er will die Leute, deren Seelen unter dem Fluch der Vorfahren, unter dem grausamen Gottesbild ersticken, wieder dazu ermächtigen, handlungsfähig zu werden.
Denn die Exilanten, sie wollen doch nur Perspektive, Freiheit. Nicht unsere heutige individualistische Freiheit, sondern eine vornehmlich nach wie vor kollektive, aber auch individuelle Freiheit. Die elementare Freiheit, also die Freiheit, zwischen Fluch und Segen wählen zu können (nicht zwischen CDU, SPD oder den Linken). Und die erhalten sie hier: „Ich will euch richten, ihr vom Haus Israel, einen jeden nach seinem Weg.“ Wir erleben hier das Hervortreten des einzelnen Menschen aus der Allgemeinheit, gewissermaßen unvermeidbar, nicht unbedingt beabsichtigt, aber dann doch entschlossen angenommen.
Merkwürdig mutet es sicherlich uns Heutige an – dies gehört zu den Unlogischkeiten – merkwürdig mutet uns an – die wir ja heute wissen, dass alle Exilanten von damals tot sind, und die wir auch davon ausgehen, dass auch wir sterben werden – die wiederholte Gesamtaussage: „Bekehrt Euch, so werdet ihr leben (einerseits); wenn nicht, werdet ihr sterben (andererseits).“
Hier erleben wir sozusagen noch ganz die kollektive Seite der Medaille. Der Prophet hebt auf die kollektive Erfahrung des Exil-Volkes Israel ab. Es steht oder stand als Gemeinschaft unter der Verheißung der Treue Gottes; weil es aber den Bund Gottes nicht gehalten hat, wäre es beinahe untergegangen. Das Volk Israel in seiner Gesamtheit ist es letztlich und bleibt es letztlich, welches die Wahl hat zwischen Tod und Leben.

VII

Was aber uns heute verwirrt, werden die Israeliten damals als nachrangig betrachtet haben, als völlig unerheblich. Sie werden die Predigt des Propheten Ezechiel – seine Botschaft, seine message – vielmehr als froh machend und befreiend erlebt haben. Euer Leben ist nicht von finsteren Geschichtslasten blockiert, nicht mehr.
Ihr habt die Wahl, das gute Leben zu wählen. „Macht Euch – macht Euch! – ein neues Herz und ein neuen Geist!“
Wow, was für ein Satz! Was für eine Message! „Change!“ Ungefähr so muß
der Präsidentschaftskandidat in den USA reden oder vielmehr wirken. Macht Euch ein neues Herz, macht Euch einen neuen Geist! Wir hören hier den Geschichtsoptimismus des Schöpfungsberichtes und begegnen ihm wieder: „Macht Euch die Erde untertan!“
Gott ruft hier also das Volk und jeden einzelnen – vom Baby bis zum Greis! – auf, sich selber neu zu erfinden. Komplett neu zu erfinden! Als einen neuen
Menschen, als einen Mensch der Gerechtigkeit! Welch ein Ruf! Welch ein Ruf der Freiheit, ein Ruf der Dynamik! Gott empowert, Gott ermächtigt zur Gerechtigkeit, zur Gerechtigkeit und zum Leben; Gott entwertet die Ungerechtigkeit, den Tod. „Ich habe keine Freude daran, wenn ihr sterbt.“

VIII

500 Jahre später hört es sich dennoch dann anders, bei Paulus, weitere 1500 Jahre später ebenfalls anders, bei Luther. Ganz anders. Alle Menschen ind Sünder, nicht einer ist es nicht.
Warum hört Paulus sich anders an, so dermaßen anders? Christliche Kritiker des Pauls und nichtchristliche Kritiker des Christentums unken ja, wegen des Menschenhasses des Paulus. Schon als Saulus ein Christenverächter, ja Christenverfolger, habe er sich als Paulus zu einem Menschenverächter weiterentwickelt. Nur noch schlimmer sei er geworden als Christ, als der, welcher er schon als Jude gewesen sei. Und von ihm und seiner schwarzen Menschenlehre her habe die Kirche ihren gefürchteten Machtanspruch entfalten können. Erst habe sie den Menschen als sündenverfallen abgewertet, dann habe sie sich der Herrschaft über ihn bemächtigt.
Geschichtlich ist ja auch eine Menge dran an diesem Vorhalt, an dieser Kritik. Allerdings muß man entgegenhalten: Sämtliche kirchliche und sämtliche nichtkirchliche Verbrechen sind nur unter der Annahme möglich geworden und vollbracht worden, dass einige Menschen nicht Sünder seien. „Alle Tiere sind gleich“ – heißt es in George Orwells „Farm der Tiere“, einer schonungslosen Abrechnung mit aller Gewaltherrschaft in Gestalt einer Tierfabel – „Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher“. Das Kennzeichen der Lehre des Paulus ist es aber, dass sie unmißverständlich die hoffnungslose Sündenverfallenheit aller Menschen betont, aller Menschen; wir haben vorhin den Abschnitt aus dem Römerbrief gehört.
Man kann also über Paulus denken was man möchte: Die Lehre des Paulus über die Sündhaftigkeit aller Menschen ist schon einmal allein deshalb nicht einfach falsch, weil sie über alle Menschen spricht. Wir alle sind gleichermaßen sind Sünder; wir alle sind gleichermaßen der Erbarmung Gottes bedürftig. So unterschiedlich Paulus von Ezechiel ist: Hier führt Paulus Ezechiel weiter. Bei Ezechiel hatten alle Menschen in gleicher Weise dieselbe Wahl; bei Paulus sind alle Menschen in gleicher Weise der Sünde verfallen und sind daher in gleicher Weise des göttlichen Erbarmens, der göttlichen Versöhnung, Errettens und Erlösens bedüftig.

IX

Im Unterschied zu Ezechiel freilich sagt Paulus: Der Mensch vermag nichts; es liegt alles bei Gott, der sich allein aus Gnaden des Menschen erbarmen muß, des Menschen, welcher sich nicht selber helfen kann in seiner Sündhaftigkeit.
Warum aber dieser Unterschied, und zwar ein derartiger Unterschied zwischen dem, was Ezechiel lehrt und dem, was Paulus lehrt? Wie kann Paulus von der Sünden- und Todesverfallenheit aller Menschen sprechen, wo Ezechiel die Freiheit der Wahl betont zwischen Leben und Tod?
Ich erklärte Euch vorhin die Situation der Menschen, an die Ezechiel sich wandte, die Situation des Exils, die Verzweiflung der 2. Generation. Die Situation der Menschen, an welche sich Paulus wandte, war hingegen eine ganz andere, nämlich diese: Diese Menschen waren Menschen nach dem Tode Jesu. Sie waren Christen, Juden oder nichtjuden von Herkunft, Individuen, Bürger der Welthauptstadt Roms zum Beispiel. Sie hatten begriffen, das der Tod Jesu am Kreuz ein globales, ein universales Ereignis war. Sie mußten aber noch verstehen, was die für sie selbst und für ihre Weltsicht bedeutete.
Mit den neuen Fragen und den neuenAntworten waren die alten Fragen und die alten Antworten nicht einfach überholt. So funktioniert das im Leben grundsätzlich einfach nicht, und dies war auch nicht die Absicht des Paulus. Selbst Jesus selber war ja – wie wir aus der Bergpredigt wissen – nichtgekommen, das Alte aufzuheben, also das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; nicht einmal um auch nur ein Iota an ihm zu ändern. Ezechiels Botschaft: „Wählt das Leben, wählt die Gerechtigkeit“ bleibt gültig.
Aber der Tod Jesu war ein fulminantes Ereignis, ein unerhörtes Ereignis! Und dieser Tod verursachte eine radikale,radikal kritische Lehre vom Menschen; Die Lehre vom Menschen, welche Paulus lehrte und welche der Protestantismus lehrt. Die Lehre von der grundgewirkten Sündenverfallenheit des Menschen, welche aber im Horizont des Erlösungs- und Versöhnungswirkes Christi steht.

X

Diese Lehre ist der entscheidende Beitrag des Christentums und also auch des Protestantismus für die Welt. (, sofern dieser nicht – wie oft genug geschehen und bis in die Gegenwart zu beobachten: opportunistisch oder machtgeil ist, oder desorientiert.) Der entscheidende Beitrag des Protestantismus und von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen von uns im Rahmen unserer Verkündigung des Evangeliums durch Lehre und Leib; aber auch: im Rahmen unseres Beitrages zu Kultur und Gesellschaft, zur Kultur der Gesellschaft.

  • Sind alle Menschen Sünderinnen und Sünder, hat prinzipiell kein Mensch das Recht, sich über einen anderen Menschen zu stellen, Erwachsene nicht über Kinder, Kinder nicht über Erwachsene, überhaupt

   weiterlesen