Predigt zu Hesekiel 34, 1–16,31

Prädikant Dr. Christian Homrichhausen, 18.4.2021 (Sonntag Misericordias Domini)

Die Gnade Gottes, die Liebe seines Sohnes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

das war starker Tobak! Wir hörten ein Elitenbashing, das es in sich hat. „Wehe den Hirten, die sich selbst weiden“ (Hes. 34, 2), so beginnt die Anklage des Propheten.

Hesekiel schlägt die Verantwortlichen mit seinen Worten. Seit fünf Jahren hatte er, der verheiratet war (Hes. 24,18) und mit der ersten Deportation der Oberschicht Jerusalems nach Babylonien verbracht worden war, an einem der Kanäle Babyloniens in dem kleinen Ort Tel Aviv gelebt, als er auf einem freien Feld seine Berufung zum Propheten erlebte. Auf freiem Feld, fern der Heimat und nicht im Tempel — an den er einst als Priester in Jerusalem gebunden war – wurde er von einer Vision Gottes erfasst. Unheil verkündigte er nun bis zur endgültigen Niederlage Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. — Jerusalem war eben nicht uneinnehmbar, wie seine Landsleute in Babylonien noch geglaubt hatten, auch hielt er eine Rückkehr in die Heimat in nächster Zeit für unmöglich. Der Angst seiner Landsleute vor den Babyloniern setzte er eine schonungslose Abrechnung mit der Vergangenheit entgegen und öffnete den Blick seiner Mitmenschen für eine neue Zukunft.


Sicherlich: die Zeit der Pandemie ist nicht vergleichbar mit den Erfahrungen des Krieges und der Deportation. Ähnlich aber ist das Bedürfnis aus den Erfahrungen der Gegenwart Lehren der Vergangenheit zu formulieren und Folgerungen für die Zukunft zu ziehen.


Seit einem Jahr befinden wir uns im Ausnahmezustand, den jede und jeder – je nach Lebenslage, ob Schüler, Berufstätiger, Eltern mit Kindern oder ohne – in unterschiedlicher Härte erlebt. Alle hoffen, dass dieser Ausnahmezustand bald sein Ende erreicht hat. Kritik am Umgang mit der Pandemie paart sich mit Überlegungen zu einem Leben nach bzw. mit einem beherrschbaren Covid-19-Virus.
Gelernt haben wir:

  • Die Beschaffung mit Impfstoffen erfordert mehr Forschungs- und Herstellungskapazitäten im eigenen Land,
  • Die Belastungen von Pflegerinnen, Pflegern, Krankenschwestern und Ärzten vor Ort sind offensichtlich geworden und in der Presse tauchen Politiker auf, die angesichts der zu bewältigenden Aufgaben wegen Überschreitung ihrer Belastungsgrenzen ihre Arbeit quittieren. In Tschechien ist bereits der vierte Gesundheitsminister in der Pandemie im Einsatz.
  • Die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz schränken kulturelle, gastronomische, religiöse Einrichtungen und Dienstleistungsanbieter, die auf Kundenkontakte angewiesen sind, massiv ein. Der Mensch als soziales, kulturelles und auf Unterhaltung, Kreativität und auf absichtslose Entspannung angewiesenes Wesen kommt ganz neu in den Blick. Werden zum Schutz vor der allgemeinen Bedrohung durch den Virus jedoch nur einzelne Bereiche erfasst, verletzt dies das Gerechtigkeitsempfinden von vielen.
  • Für die gesamte Gesellschaft ist das Gesundheitssystem in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Dass nicht nur in unserem Land über die Verhältnisse von innerer und äußerer Sicherheit angesichts dieses Tatbestandes neu nachgedacht wird, ist mehr als nur zu wünschen.

Zurück zu unserem Text: Hirten werden angesprochen. Der Berufsstand der Schäferin und des Schäfers steht als Bild für die Personen des Gemeinwesens, die eine herausragende, leitende, bedeutende Stellung einnehmen. Ihnen wird vorgeworfen, sich auf Kosten der ihnen Anvertrauten bereichert und diese geschunden zu haben.

Wehe den Hirten, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht.

(Hesekiel 34, 2)

Dazu eine historische und eine gegenwärtige Aufnahme des Textes.

Luther hat in seiner ersten Psalmenvorlesung die Vorwürfe des Propheten vorrangig an die weltlichen Eliten gerichtet verstanden, so dass gerade diejenigen, die geistliche Ämter inne haben, wie z. B. Priester, Prälaten und geistliche Fürsten, sich vor diesen gemaßregelten Verhaltensweisen hüten sollten. Für diese gilt das durch das Wort, die Schrift gebundene Gewissen als Richtschnur des Handelns. Auf dieses durch die Schrift gebundene Gewissen hat sich Luther heute vor 500 Jahren auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser und Reich berufen.

Nun zur Gegenwart. Das Bashing/Schlagen der Verantwortlichen stößt in der Pandemie auf Unverständnis und löst sogar Schmerzreaktionen aus. Pflegerinnen, Pfleger, Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte setzen sich in der Pandemie bis an die möglichen Belastungsgrenzen für die ihnen Anvertrauten ein. Z. T. lassen uns die die Medien Anteil nehmen an den Sorgen, den Zweifeln und dem Verzweifeln, wenn trotz aller Bemühungen ein Mensch nicht gerettet werden konnte. Und einige unter uns leiden darunter, dass sie sterbende Angehörige nicht so begleiten konnten, wie sie es gewollt hätten.

Auf diesem Hintergrund sollten wir das Wort von Hesekiel noch einmal hören:

Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern.

Hes. 34, 10

Gott überlässt den Hirten seine Herde und bleibt mit ihr dennoch verbunden. Kommen die Hirten an ihre Grenzen nimmt er sie von ihnen zurück, denn die Herde, die Menschheit, gehört letztendlich ihm! Es folgen Zusagen, die uns an die Selbstvorstellung Jesu als guten Hirten und an sein Gleichnis vom Suchen des Verlorenen erinnern (Joh. 10, 27f, Lk 15,3ff par.)

Ich will mich meiner Herde selbst annehmen…und will sie weiden… Ich will sie auf die beste Weide führen. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken…ich will sie weiden, wie es recht ist.

Hes. 34, 16ff

Luther hat daraus eine christliche Lebenshaltung herausgelesen, wie er in einer seiner Tischreden kundtat:


Wahrhaftige Heilige sind alle Kirchendiener, weltliche Herren und Obrigkeiten, Eltern, Kinder, Hausherrn, Hausgesinde und was der Stände mehr sind… sofern sie als erstes meinen und glauben, dass Christus ihre Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung sei.
Dass sie aber nicht alle gleich stark sind, sondern an etlichen noch viel Gebrechen, Schwachheit und Ärgernis gesehen werden, schadet ihnen an ihrer Heiligkeit nichts, doch nur insofern, dass sie nicht aus bösem Vorsatz, sondern aus Schwachheit fehlgehen. Denn die Christen fühlen die Versuchungen, widerstreben ihnen aber, dass sie die nicht vollbringen, und ob sie auch straucheln und fallen, wird es ihnen doch vergeben, wenn sie wieder aufstehen und sich an Christus halten, welcher haben will, dass man das verlorene Schaf nicht verjagen, sondern suchen soll. (Luk 15,4, Hes. 34, 11.16)

Hesekiel hat es in seiner Berufungsvision geschaut: die Gegenwart Gottes ist an besondere Orte nicht gebunden. In der Nachfolge Jesu geschieht sie an jedem Ort, an dem wir uns im Sinne Gottes und seines Sohnes verhalten.
Bisher haben wir die Hirten als Bild für die Eliten, für herausragende und bedeutende, wichtige Personen des Gemeinwesens verstanden.


Aber werden wir nicht durch das Beispiel Jesu gerade aufgefordert Hirtin und Hirte für einander zu sein?! Was mit diesem Bild gemeint ist, das wissen wir, auch noch in einer Zeit, in der ein Schäfer mit seiner Herde nicht mehr zum alltäglichen Bild gehört. Ein Hirte ist einer, der für seine Schafe sorgt, der sie beschützt, auf sie achtet, dass sie immer genug Weide und Wasser finden. Dadurch, dass unser Herr sich den „guten Hirten“ genannt hat, haben die Eigenschaften eines Hirten für uns noch deutlichere und ehrenwertere Züge bekommen: Ein „guter Hirte“ denkt nicht zuerst an sich, sondern an die, die ihm anbefohlen sind. Er gibt sich hin für sie, tut alles für sie, am Ende opfert er sogar sein Leben. Dies hört sich zuerst einmal wie eine Zumutung an. Blicken wir genauer hin, entdecken wir, dass diese Eigenschaften gerade auch für uns Ausdruck unseres Lebenswillens sind.


Ich denke an die Beziehungen der Liebe, in denen wir stehen. Ich möchte wirklich, dass der geliebte Mensch weiß und spürt, dass ich für ihn sorge, dass ich ihn beschütze und niemals ablassen werde, ihn zu lieben!
Oder nehmen wir die tiefe Zuneigung, die wir als Mutter und Vater zu unseren Kindern haben. Kann unser Kind je herausfallen aus dieser Liebe? Wir möchten sie bergen in unserer Fürsorge, möchten sie immer um uns haben und oft genug fällt es uns ja sehr schwer, sie loszulassen, auch wenn die Zeit dazu gekommen ist. Unsere Gefühle bleiben ja die gleichen, wenn unsere Kinder erwachsen sind. Wir respektieren, dass unsere Tochter, unser Sohn jetzt selbständig ist und sie für sich verantwortlich sind. Unsere Liebe aber wird ihnen immer ein Halt sein, eine Hilfe solange wir bei ihnen sind. Und wenn unsere Kinder Wege gehen, die wir nicht gutheißen können, die wir mitunter auch nicht verstehen, selbst wenn unsere Kinder in Sackgassen geraten und in Schuld fallen – unsere Tür wird immer offen sein für sie sein, wann immer sie heimkommen wollen!


Und schließlich sind unsere Freundschaften nicht auch solche Beziehungen, wie sie ein guter Hirte zu seiner Herde hat?! – Mein Freund/meine Freundin sollen sich auf mich verlassen können!


Überlegen wir, ob nicht auch unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen grundsätzlich etwas von dem widerspiegeln, was Hirte und Herde ausmacht.


Der Gedanke an ein Verhalten, das nicht dem Bild vom guten Hirten entspricht, mag uns einen Hinweis geben. Wenn Sie einen Menschen in ihrer Umgebung gemein behandelt oder gar über das Ohr gehauen hätten, würde sie das so ganz kalt lassen, so dass sie zu sich sprächen: Wenn der halt so blöd ist, dann gebührt es ihm nicht anders? Oder hätten sie dann nicht doch mindestens für ein paar Stunden, evtl. sogar Tage Probleme, sich selbst über den Weg zu trauen? Anders gesagt: Schlüge ihnen nicht doch das Gewissen? – Warum? Ich denke, weil wir eben doch wissen, dass wir allen Menschen gegenüber eine Pflicht zur Fürsorge haben, zum ehrlichen Wort und zum verlässlichen Handeln. Und so wie wir diese Pflicht in uns hören und spüren, so gehen wir auch davon aus, dass sie die anderen uns gegenüber empfinden und erfüllen!


Wir entgehen so dem Urteil Gottes, wenn er sagt: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern… Wir tun das nicht aus Angst, weil wir uns vor den Folgen fürchten, die Gott über uns bringen mag. Wir wollen den anderen ein Hirte sein, weil wir uns Mitmenschen wünschen, die sich so verhalten, wie Gottes Wort vom „guten Hirten“ es beschreibt und wie er selbst für uns alle einer ist:

Ich will meine Herde auf die beste Weide führen. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken … ich will sie weiden, wie es recht ist.

Hesekiel 34, 15–17


Solche Hirten sind wir und können es immer wieder werden. Und ich verrate Ihnen sicherlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen und Euch sage, dass sehr viel Glück und eine tiefe Freude darin verborgen liegen! Amen.