Predigt von Dr. Lorenz Wilkens im Gottesdienst zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus 2022

Predigt nach 2. Könige 25,1–11 und Markus 12,28–34a am 30. Januar 2022 in der Gnadenkirche

Liebe Gemeinde, heute, auf den Tag genau vor 89 Jahren, wurde Adolf Hitler, dessen Partei, die NSDAP, nach der Wahl des Reichstages die stärkste Fraktion stellen sollte, durch den Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Sie hatte 43,9% der Stimmen erreicht und somit die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt. Damit begannen die zwölf unheil-vollsten Jahre der deutschen Geschichte – in einer Verdunkelung des Geistes, einer Fesselung der Gemüter, die von den trügerischen Triumphen der ‚Bewegung‘ jäh wie Blitze erleuchtet wurden, bevor sie sang- und klanglos in das denkfeindliche Einverständnis zurückkehrten. In der Gefolgschaft, die die Mehrheit der Deutschen dem NS leistete, wechselten gedankenlose Begeisterung und apathischer Konformismus einander ab. So kam es, daß die Frage nach der Legitimation des Regimes viel zu wenig gestellt, viel zu wenig besprochen wurde. Dabei war sie besonders seines von Anbeginn erklärten Antisemitismus und dem ihm entsprechenden, weithin in die Tat umgesetzten Unternehmen, das jüdische Volk zu vernichten, zwingend notwendig.

Nach dem Zusammenbruch von 1945 setzte sich der gedanken- und sprachlose Konformismus weithin fort; ohne viel Federlesens übernahm man den neuen Rahmen des Handelns, den die Verfügungen der Siegermächte herstellten. Es sind nach meiner Geburt im Jahre 1943 fünfzehn Jahre vergangen, bevor ich aus dem Dunkel des apathischen Konformismus – des gedankenlosen Weitermachens, das die Nachkriegszeit beherrscht hatte – allmählich erwachte und in mir und meinen Altersgenossen ein historisches und politisches Bewußtsein entstand. Zu dessen Zentrum gehört eine Empfindung, die bis heute in mir nicht schwächer, sondern nur deutlicher geworden ist: das Gefühl der Fassungslosigkeit angesichts der massenhaften Leugnung des Gebotes, über das wir heute nachdenken sollen, durch den NS: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Dazu möchte ich vor allem dies sagen: Der Begriff des Nächsten hat ein hebräisches Vorbild: re‘á, das in der griechischen Übersetzung der Bibel mit plesíon und in der lateinischen mit proximus wiedergegeben wird. Diese drei Wörter haben das Folgende miteinander gemeinsam: Sie meinen eigentlich jenen Menschen, der dadurch, daß er einem anderen n a h e kommt, in diesem unwillkürlich, unweigerlich Aufmerksamkeit hervorruft. Und dazu das Gebot: Du sollst diese Aufmerksamkeit nicht ignorieren, sollst sie nicht in den Wind schlagen. Sondern es soll – und k a n n – dir bewußt werden, daß sie recht eigentlich dieselbe ist wie jene, die du dir selbst zuwendest. Sie sagt: ‚Hier ist L e b e n , und Leben will und kann nicht nur bei sich bleiben, nicht in sich verharren. Es geht von sich aus über sich hinaus in seine Umgebung und findet dort anderes Leben vor. Es läßt dies zu seinem Bilde werden – Pflanzen, Tiere, Menschen -, und es erwartet, daß auch in dem Leben, das es sich gegenüber sieht, Entsprechendes geschieht. Auf diese Weise entstehen die elementaren Bündnisse, ohne die niemand bestehen kann. Und diese elementare Erfahrung – nimm sie, so sagt Jesus, so sagt die Thorah, die Weisung des jüdischen Volkes, nimm sie als Keim und Vorbild des Sozialen, der Arbeit nicht minder als des gemeinsamen Erschließens der Welt, der Wirklichkeit sowie des gemeinsamen Versuchs, dieser Welt gerecht zu werden, ihr zu entsprechen, das bedeutet wörtlich: von ihr zu gerechten Formen des Denkens, des Sprechens, der Namen zu kommen. In diesem Sinne ist die Liebe zum Nächsten, d. i. die Aufmerksamkeit auf ihn, die bereit ist zur Zuneigung, die Quelle der Gerechtigkeit.

Doch von hier, liebe Gemeinde, mit Schmerz zurück zu den Erinnerungen an die Gewaltherrschaft, die Fremd-herrschaft, die babylonische – wir haben die Geschichte von der Zerstörung des Gemeinwesens Juda durch die Babylonier gehört – sowie die Herrschaft des NS, an die wir heute besonders denken müssen. Was war in den Gemütern jener Menschen geschehen, die die Gewaltherr-schaft begründeten und behaupteten? Das ist gewiß ein weites Feld; ich möchte mich auf einen Gesichtspunkt beschränken: Gewalt-herrschaft entsteht, sie k a n n nur entstehen, wenn die Mißachtung des Gebotes der Nächstenliebe, der Ungehorsam ihm gegenüber zur Gewohnheit, zur Regel, am Ende zum Gesetz wird, das heißt mit anderen Worten: wenn ein Mensch, eine Gruppe von Men-schen, am Ende eine ganze Klasse der Gesellschaft von der Gegen-seitigkeit der sozialen Aufmerksamkeit und Praxis ausgeschlossen wird. Mit anderen Worten: Gewaltherrschaft entsteht, wenn gesagt wird: Ja, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst – a u ß e r den anderen, außer denen, die dir gar nicht nahe kommen können, weil sie nicht von deinen Göttern abstammen, weil sie nicht zu den erklärten Ahnen deines Volkes gehören, mithin rassisch fremd sind, oder einfach darum, daß sie arm, daß sie besitzlos sind und daher die in deinem Volke geltenden Sitten nicht zu befolgen verstehen. Es wird geltend gemacht und eingeschärft, daß man mit allen diesen keine Erfahrungen teilen kann und darf. Dadurch ergibt sich der Wahn, die Summe der Erfahrungen, die man überhaupt als solche anerkennen könne, sei begrenzt, sei nicht unendlich. Das heißt denn aber auch, daß man die Offenheit des menschlichen Bewußtseins gegenüber neuen Erfahrungen beschränkt, wo nicht ganz verbietet. Die Folge ist ein allgemeines Denkverbot. Ich wüßte nicht, in welcher politischen Bewegung es verbreiteter gewesen wäre als in Hitlers Nationalsozialismus.

Um so dankbarer möchte ich zum Schluß noch auf einen in dem heutigen Predigttext – Mc 12, 28 – 34a – enthaltenen besonderen Akzent hinweisen: Der Schriftkundige, der hier mit Jesus spricht, zitiert das fünfte und das dritte Buch Mose: „… und du sollst ihn – Gott – lieben mit ganzem Herzen, aus aller Einsicht, mit ganzer Kraft und deinen Nächsten – d. i. der Mensch, der dir je n a h e kommt – wie dich selbst.“ Liebe Gemeinde, das Besondere dieser Formulierung liegt darin, daß sie die Gottes- und die Nächstenliebe in e i n e m Atemzuge nennt. Wer Gott wirklich liebt, in dem öffnet sich die Liebe, die er Gott widmet, zu dem Mitmenschen hin, dem er eben begegnet. Und umgekehrt: Wer ihn, den Mitmenschen, wirklich liebt, in dem öffnet sich die Liebe zu Gott hin. Denn zwischen beiden – Gott und dem Mitmenschen – besteht eine Brücke, ein gemeinsames Terrain: das Insgesamt der gesellschaftlichen Realität mit ihrer Atmosphäre der o f f e n e n Gedanken, der Gedanken, die im Werden sind und daher die Erfahrungen verschiedener Menschen miteinander verbinden können.

Liebe Gemeinde, laßt uns für die Offenheit dieses Geistes eintreten, die aus der Verbindung der Nächstenliebe mit der Liebe zu Gott entsteht, – in einer Zeit, in der die Wahngebilde und Denkzwänge des NS, die wir längst für vergangen hielten, hier und da ihr frech glotzendes Haupt wieder erheben. Und laßt uns Gott dazu um Beharrungskraft und Weitsicht bitten. Amen.