Predigt zum Gottesdienst zum Gedenken der Opfer der Schoa am 27. Januar 2019

Von Rabbinerin in Ausbildung Karen Engel vom Abraham Geiger Kolleg

Die Lehre meines Großvaters

Im Jahr 1939 reiste mein Großvater Adam Engel absichtlich von Danzig nach Berlin. Warum ausgerechnet Berlin? Seine eigenen Verwandten waren schon 1938 aus Berlin nach Palästina oder nach Großbritannien geflohen. Aber mein Großvater, ein wohlhabender assimilierter jüdischer Bürger Danzigs, brauchte Rat und medizinische Hilfe. Er litt an einer chronischen Erkrankung der Speiseröhre. Auf der Suche nach der bestmöglichen Behandlung ging er im Mai 1939 zu dem renommierten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Im Berliner Spital Charité, in einer besonderen Abteilung für jüdische Patienten, wurde mein Großvater, unter der Leitung von Sauerbruch und dem Laryngologen Carl Otto von Eicken, behandelt. Aber die Erkrankung seiner Speiseröhre wurde nicht behoben. Stattdessen wurde meinem Großvater zu experimentellen Zwecken eine Rippe entfernt und zwar nicht durch einen Einschnitt von vorn wie üblich, sondern vom Rücken. Erstaunlicherweise überlebte mein Großvater nicht nur diesen Eingriff und die daraus resultierende Lungenentzündung, sondern auch zwei Jahre Flucht und Verfolgung, bis er schließlich 1941, aus Tunesien, in die USA emigrieren konnte. Die Probleme mit der Speiseröhre wurden erst viele Jahre später behoben.

Mein Großvater hat mit seiner Familie fast nie über diese Geschichte geredet. Mein Vater erfuhr erst davon viele Jahre nach dem Krieg von einem Freund der Familie, der auch Arzt war und über den Fall im „Zentralblatt der Chirurgie“ gelesen hatte. Adam Engel hat sich auch kaum über sein Schicksal beklagt. Obwohl ich in einer Familie von deutschen und polnischen jüdischen Emigranten aufgewachsen bin, die viele Angehörige in der Shoah verloren haben, wie die geliebte Schwester meines Großvaters und ihre Familie, habe ich fast nie das Wort „Opfer“ in unserem Familienkreis gehört. Vielmehr hörte ich das Wort „Dankbarkeit“. Dankbar sein, dass man überlebt hatte, dankbar, dass man ein neues Leben aufbauen konnte. Mein Großvater war schon weit über 60 Jahre alt, als er mit seiner achtjährigen Tochter, meiner Tante, in die USA einreiste. Er war Seeversicherungsmakler vom Beruf und fließend in sechs Sprachen, was ihm aber wenig nützte in seiner neuen Heimat.

Ein privates Darlehen von der jüdischen Hilfsorganisation, dem American Joint, ermöglichte es ihm, sich zu einem einfachen Bauern umschulen zu lassen. Bis zu seinem Lebensende betrieb er nun eine Hühnerfarm im hintersten Hinterland von New Jersey. Dort hat er ein zweites Mal geheiratet, denn seine erste Frau, meine Großmutter, war schon vor der Shoah gestorben.  Seine zweite Frau wurde dann meine Oma Lena. Sie kam ursprünglich aus Freiburg, überlebte Auschwitz, verlor dort aber ihren ersten Mann und ihren einzigen Sohn. Nach dem Tod meines Großvaters in den 60er Jahren heiratete sie ein drittes Mal. Eine der stärksten Erinnerungen die ich an sie habe, ist, wie sie auf dem Rücksitz unseres Cabrios mit ihrem neuen Verlobten saß und kicherte und ihn küsste wie ein 17 jähriger Teenager.

Warum erzähle ich Ihnen diese einzigartigen kleinen Geschichten, die bloß winzige Ausnahmen aus der Geschichte der Shoah darstellen? Weil ich glaube, dass es besonders wichtig ist, gerade an diesem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, uns darüber klar zu sein, dass der Mensch immer individuell, widersprüchlich, vielfältig und einzigartig ist, dass der Begriff „Opfer“ nie das Menschsein definieren oder ersetzten soll – genauso wie viele andere Begriffe der damaligen, und leider auch heutigen Zeit – Begriffe wie „Flüchtling,“ „Ausländer,“ „Moslem“ usw.  Begriffe, die den Menschen auf eine Kategorie beschränken.

Schon 1986 schrieb der polnische Schriftsteller und Journalist Isaac Deutscher in seinem Buch, Der nichtjüdische Jude, folgendes:

„Es ist eine tragische und makabre Wahrheit, dass Hitler der größte ‚Neudefinierer‘ der jüdischen Identität war – und dies ist einer seiner kleineren posthumanen Triumphe.“

Oder – wie ein israelischer Bekannter über seine ersten Begegnungen in Deutschland erzählte: „… man hat mich angeguckt und sofort Holocaust gesehen.“

Das ist auch kein spezifisch jüdisches oder deutsches Erlebnis, vor allem in dieser sehr gespaltenen Zeit des politischen Populismus – in einer Zeit, wo man einen Moslem sieht und sofort denkt „Terrorist“, oder man sieht einen Flüchtling aus Honduras und sofort denkt: „illegaler Einwanderer“. Wir leben wieder in einer Zeit des „wir“ gegen „sie“, links gegen rechts, entweder Freunde oder Feinde. Das ist gefährlich, und bringt uns keinen Frieden, und keine Lösungen.

Deswegen finde ich es sehr begrüßungswert, dass hier in Spandau schon einige Projekte übernommen wurden, die den Holocaustopfern einen Namen und eine Geschichte geben – wie z.B. die Projekte der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau, die Arbeit von Schülern des Oberstufenzentrums TIEM, die die Familiengeschichte der Familie Solomon erforscht haben, oder die Tätigkeit der AG Christen und Juden im Evangelischen Kirchenkreis Spandau.

Im jüdischen Gottesdienst dieser Woche lesen wir den Wochenabschnitt Mishpatim, (zu Deutsch Gesetze), aus dem 2. Buch Moses (Kapitel 21 Vers 1 bis Kapital 24 Vers 8). Unter den vielen Gesetzen, die dort stehen, steht dieser merkwürdige Satz: (23:5)

כִּֽי־תִרְאֶ֞ה חֲמ֣וֹר שֹׂנַאֲךָ֗ רֹבֵץ֙ תַּ֣חַת מַשָּׂא֔וֹ וְחָדַלְתָּ֖ מֵעֲזֹ֣ב ל֑וֹ עָזֹ֥ב תַּעֲזֹ֖ב עִמּֽוֹ׃ 

was ungefähr bedeutet: Wenn Sie den Esel Ihres Feindes sehen, der unter seiner Last liegt und ihn nicht erhöhen möchten, müssen Sie ihn trotzdem mit ihr erheben.

Was bedeutet dieser Satz? Wie der ehemalige Oberrabbiner von England, Jonathan Sacks meint, ist es einfach. Dein Feind ist auch ein Mensch. Feindseligkeiten können spalten, aber es gibt etwas tieferes was uns verbindet: der Bund der menschlichen Solidarität. Man muss seinen Feind nicht lieben… aber wenn dein Feind in Schwierigkeiten ist, komm ihm zu Hilfe. Auf diese Weise wird, vielleicht, ein Teil des Hasses aufgelöst.

Im der mündlichen Überlieferung der Torah, im Talmud (Baba Metzia 32b) geht es sogar weiter: „Wenn das Tier eines Freundes entladen werden muss und das Tier eines Feindes geladen werden muss, sollst du zuerst deinem Feind helfen – um die böse Neigung zu unterdrücken.“

Was bedeutet das? Beide brauchen Hilfe, du musst deinem Feind nicht nur helfen, sondern noch dazu bei dir selber die Entfremdung, den Widerwillen, überwinden um Hilfe zu leisten. Das ist für uns alle sehr schwierig, aber es bringt auf Dauer vielleicht sehr viel. Nach einem jüdischen Sprichwort heißt es: „Wer ist ein Held?“ (Avot de-Rabbi Natan, 23) „Einer, der einen Feind in einen Freund verwandelt.“

Was sind also die Lehren aus dem Leben meines Großvaters, und aus dem Leben meiner Oma? Sie lehnten es ab, sich von Hass definieren zu lassen, sich selbst als Opfer zu sehen, auch wenn sie Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit erlitten hatten. Sie haben nie die Vergangenheit vergessen, aber sie schauten nach vorne, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie definierten Andere nicht nach ihrer Nationalität oder ihrer Religion, sondern nach ihrem Charakter. Am Ende kommt alles zurück zu der goldenen Regel, die wir aus dem Judentum und dem Christentum, und aus anderen Religionen kennen: Was du nicht willst, dass man dir tue, das füge auch keinem anderen zu.