Gedenkgottesdienst für die Opfer der Shoa, 29.1.2017 (Jasmin Andriani)

Liebe Gemeinde,

meine Großmutter Margot Ebstein ist 1918 geboren und in Breslau aufgewachsen. Sie hat ihre Kindheit und Jugend vor und nach dem 30.1.1933 in Deutschland beschrieben. Gerne möchte ich Ihnen einige Stellen aus ihrem Text vorlesen die von den Ereignissen rund um die Reichspogromnacht handeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie die Schule verlassen müssen und arbeitete in einer Arztpraxis.

Auch an jenem bitteren 10. November 1938 früh um 9 Uhr ging ich in meinen Dienst. Auf dem Weg zu ihm rief mir ein jüdischer älterer Herr zu:
Die große Synagoge brennt und die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte werden eingeschlagen.“ Ich stürzte zu dem Praxishaus. Von weitem sah ich schon die eingeschlagenen Fensterscheiben. Der Hauseingang war mit Glassplittern besät. Daneben stand ein Polizist mit Sturmriemen. Oben riss ich zuerst an der Klingel, aber niemand öffnete. Zum Glück hatte ich einen Schlüssel bei mir. Ich schloss auf. Niemand war in der Wohnung. Ich rannte zu dem Zigarrenhändler, dessen Wohnung sich neben der unsrigen befand. Seine alte Frau öffnete mir und sagte weinend, dass ihr Mann, der doch schon über 80 Jahre alt war und auch mein Chef vor etwa 10 Minuten von 2 Gestapoleuten fortgeführt worden sei.
Ich stand einen Augenblick starr. Dann begann mein Gehirn wieder zu arbeiten.

Nun versucht meine Großmutter ihren Chef, den Arzt Dr. Fritz Littauer, zu retten.

Vor meinem Taxi fuhren in langen Ketten die Lastwagen, in denen die eben verhafteten Juden saßen. Sie sollten scheinbar ins Polizeipräsidium geschafft werden. Wie dort die vielen tausend Menschen untergebracht werden sollten, war mir nicht ganz klar. Später hörte ich, dass sie in den großen Höfen dieser Gebäude zusammengedrängt bis zum Abend stehen mussten, bevor sie nach den Konzentrationslagern abtransportiert wurden.
Nur einige Ladenmädchen oder ältere Schulkinder standen neugierig auf der Straße und lachten manchmal schadenfroh. Immerfort hörte ich die schrillen Hupen der rasch fahrenden Polizeiwagen. Der ganze Verkehr stand dadurch in der Stadt still und mein Auto musste öfters halten. Wir fuhren an der brennenden Synagoge vorbei. Die große Kuppel, ein Wahrzeichen unserer Stadt, rauchte und stand schon schief. Ab und zu hörte man große Detonationen, die von den Sprengungen herrührten, die die Feuerwehr vornahm, um ein schnelleres Ende der Synagoge herbeizuführen. Aber die schweren Quadern der Mauer wankten nicht und nach langer Zeit erst wurde die Breslauer Bevölkerung von dem peinlichen Anblick des abgebrannten Gotteshauses befreit.
Nach etwa 14 Tagen kamen die ersten Karten von „Schutzhäftlingen“ aus dem Konzentrationslager in Buchenwald bei bekannten Familien an. Buchenwald war als das schlimmste aller Lager bekannt. Und von meinem Chef kam keine Nachricht. Ich wusste nicht, ob ich mich für einen Lebenden oder einen Toten bemühe. Täglich hörte man, dass diese oder jene Familie die Asche eines Toten zugestellt bekommen hatte. Die Urnen wurden als Nachnahmesendung (der Betrag von 3.75 Mk. Wurde von der Post dafür genommen), behandelt. Vierzehn Tage nach der Verhaftung, also gleichzeitig mit den ersten Nachrichten, die in Breslau aus Buchenwald einliefen, bekam ich aus Berlin die Nachricht, dass das Zertifikat für Palästina beschafft sei. Ich telefonierte sofort nach Berlin, aber von dort bekam ich die niederschmetternde Nachricht, dass das Anwaltsbüro inzwischen polizeilich geschlossen
worden war.

Also mußte sie persönlich nach Berlin fahren.

Auf die Straße gekommen, sah ich überall eingeschlagene jüdische Geschäfte, die ja gerade auf dem Kurfürstendamm, wo ich zu tun hatte, sehr zahlreich waren. Ich hatte schrecklichen Hunger, aber wo sollte ich essen? Die jüdischen Restaurants waren geschlossen und die arischen für Juden verboten. Nun musste ich für eine Unterkunft für die nächste Nacht sorgen.

Dem 20 jährigen Mädchen gelang es schließlich, die Dokumente zur Ausreise zu beschaffen und ihren Chef zu retten. Im April 1939 verließ auch sie Deutschland in Richtung Palästina.

… Als ich über die Alpen fuhr, stand ein arischer Herr, der einen sehr vornehmen Eindruck machte, neben mir am Fenster. Er erklärte mir die Landschaft und fragte mich dann, wohin ich fahre. Ich sagte: „nach Palästina“ und glaubte schon, jetzt würde er nicht mehr mit mir weiter sprechen. Aber er meinte, das habe er sich schon gedacht. Zum Schluss, er stieg in Semmering aus, dankte ich ihm für seine Erklärungen und sagte, ich hätte mich so gefreut, genau so über die Gegend zu fahren, weil ich doch heute die Alpen zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben sehen würde. Er antwortete: „Ich garantiere Ihnen, n i c h t zum letzten Mal!“

Es war das letzte Mal. Meine Großmutter verstarb 1960 in Palästina. Nie wieder sah sie die Alpen, Deutschland oder ihre Familie wieder. Ihre Mutter wurde von Breslau aus deportiert und 1943 in Theresienstadt ermordet.
Wie konnte das alles geschehen? Wie konnten Menschen aus unserer Mitte heraus gerissen werden und plötzlich gehörten sie nicht mehr dazu? Wie konnte sich über Jahre hinweg ein Regime etablieren, das auf Unrecht und Angst fußte? Wie konnte diese Entwicklung zu der Ermordung von 6 Millionen Juden in Europa führen, davon 1,5 Millionen Kinder?
Ich kann es einfach nicht erklären! Egal wie viele Geschichtsbücher ich lese.
Ein Blick in die Jüdische Bibel erklärt natürlich nicht den deutschen Nationalsozialismus, aber die Torah beschreibt etwas, das vor 3000 Jahren, vor 80 Jahren und heute das Geschehen bestimmt: Den Menschen. Wie verhält er sich in schwierigen Situationen, in Krisen und Katastrophen? Was ist ihm wichtig? Gelingt es ihm, sich moralisch zu verhalten, oder wird er korumpiert durch Verlockungen oder Angst?
Diese Fragen müssen sich auch die Protagonisten des heutigen Wochenabschnitts — Wa´era aus dem Buch Exodus — gefallen lassen.
„Da erstand ein neuer König über Ägypten, der Josef nicht gekannt.“ (Ex. 1, 8) Gemeint ist, dass der neue Pharao sich nicht der Verdienste des Josefs um das ägyptische Volk, das er erfolgreich durch Hungersnöte rettete, bewußt war und die damit einhergehende Dankbarkeit nicht an den Tag legte. Im Gegenteil: er sah seine Macht durch die zum Volk erstarkten Israeliten potentiell in Gefahr. Ihre andersartige Kultur und Religion betrachtete er als staatsgefährdend. So machte er sie zu Sklaven und ordnete an, alle hebräischen männlichen Säuglinge nach der Geburt zu töten. Der Pharao erwählt für diese brutalste aller denkbaren Aufgaben ausgerechnet die Hebammen und spricht zu ihnen in Ex 1, 16: „Wenn ihr den iwrischen Frauen in der Geburt beisteht, so sollt ihr auf dem Gebärstuhl Acht haben. Wenn es ein Sohn ist, so sollt ihr ihn umbringen. Ist es aber eine Tochter, so mag sie leben.“ Die Hebammen waren einfache Frauen, die weder finanziell potent waren, noch einen hohen sozialen Status innehatten. Ihnen gegenüber stand der Pharao, im Alten Ägypten galt er nicht nur als König, sondern wurde als Gott verehrt. Dennoch geschah es, dass zwei Hebammen, Schifra und Pua, sich dem Befehl widersetzten. Sie machten einfach nicht das, was ihnen befohlen wurde. In modernen Worten kann man hier von passivem Widerstand sprechen. Die beiden Hebammen haben wahrscheinlich nicht lange die Situation erörtert und das Für und Wider diskutiert und sich eventuelle Konsequenzen im Sinne von Strafen vor Augen gehalten. Für sie war einfach klar: die Aufgabe, die von ihnen verlangt wird, ist absolut unmenschlich. Sie geht gegen den Säugling, die Mutter und den Rest der Familie. Die Torah allerdings gibt als Grund für ihre Weigerung an, dass sie G´tt fürchteten. Denn die Dinge, die wir auf der Erde tun, gehen nicht nur uns und die betroffenen Menschen etwas an, sondern wir sind G´tt Rechenschaft schuldig. Wir haben in unserer Brust eine Empfindung, die so kein anderes Lebewesen hat: Moral. Seit Adam und Eva die falsche Frucht aßen, können wir zwischen Gut und Böse unterscheiden. Und nicht nur dass wir das können; wir müssen es auch.
Leider haben wir in unserer Brust ein zweites Gefühl, welches alle Lebewesen kennen: Furcht.
Sogar die großen Helden aus der Hebräischen Bibel kennen es. Eben wurde vorgelesen wie Moses reagierte, als G´tt ihm offenbarte, dass er die Kinder Israels aus Ägypten führen solle. Der Dialog wiederholt sich in ähnlicher Weise in Ex 6, 11: „Geh, sage zu Pharao, König von Ägypten, dass er die Kinder Israels aus seinem Land ziehen lasse.“ Da sprach Moses vor dem Ewigen: „Da die Kinder Israels mir kein Gehör schenken, wie wird mir Pharao denn Gehör schenken? Ich habe ja unbeschnittene Lippen!“ Moses versucht sich wider herauszureden. Die Aufgabe erscheint ihm zu schwer. Er weiß um die Widerstände auf die er trifft beim Volk der Israeliten und vor Allem beim Pharao. Und anders als die Hebammen führt Moses sich wahrscheinlich sehr wohl vor Augen, welche Strafe ihm als Rebellionsführer vom mächtigsten aller Könige drohen würde. Er bringt vor, nicht vernünftig sprechen zu können. Dass eine körperliche Beeinträchtigung per se kein Hindernis darstellt um Macht auszuüben, wissen wir durch viele Beispiele in der Geschichte.
Obwohl G´tt mit Moses direkt spricht und verspricht ihm zu helfen, hat Moses Angst. Dies zeigt, wie schwer es oft ist, die Stimme zu erheben.
Allein die Formulierung in Deutsch „die Stimme erheben“ erklärt schon, dass es sich um etwas Schweres handelt, das man mühevoll hochheben muss. Ein Lachen kann einem Menschen aus dem Mund sprudeln, ein Schimpfwort herausrutschen, aber klar und deutlich sich gegen Missstände zu äußern gegenüber jemandem der sie erzeugt hat oder einer breiten Masse von Menschen die sie verändern können, das ist schwer und hier muss die Stimme erhoben werden. Das gleiche Verb finden wir übrigens im Zusammenhang mit einem anderen Nomen: dem Kopf. Auch den Kopf kann man erheben. Wandelt jemand erhobenen Hauptes, ist er im Reinen mit sich und seiner Umwelt. Er hat keine Schuldgefühle und keine Erwartungen, die er an sich gestellt hat, enttäuscht.
Nun ist es an der Zeit in uns zu schauen. Auf dieses Gefühl in unserer Brust zu hören, das ich Moral nannte. Uns mit unserer Verantwortung unseren Mitmenschen aber auch G´tt gegenüber auseinanderzusetzen. Sitzen wir heute hier mit erhobenem Haupt?
Gibt es in unserer Welt nichts, was uns zwingt unsere Stimme zu erheben?
Wir wissen, wie schwer es war in Nazi-Deutschland die Stimme zu erheben. Wir kennen einzelne Beispiele von erfolglos versuchtem Widerstand. Fakt ist, dass das Terror-Regime, das dieses Land 12 Jahre lang beherrschte nicht von Innen gestürzt wurde, sondern zusammenbrach, weil die Alliierten den Krieg gewannen. Es war schwer etwas zu machen, weil es sich um eine perfide Schreckensherrschaft handelte. Aber noch ein weiterer sehr gewichtiger Grund erschwerte jedes ethische Handeln: Das Mitläufertum der schweigenden Masse. Die Menschen wollten ihre eigene Haut und ihre Familie retten. Viele hatten für mehr nicht den Mut und die Kraft. Sie befolgten eine andere Strategie: sie sahen weg. Und wenn ganz viele Menschen für sich selber entscheiden weg zu sehen, werden sie zur Mehrheit in einer Gesellschaft und je mehr es werden, desto schwerer wird es für diejenigen, die eigentlich handeln wollten. Und irgendwann schaut niemand mehr hin…
Wenn wir hinschauen, sehen wir noch die tausenden Menschen, die jämmerlich im Mittelmeer ertrinken, oder sind sie für uns nur zu einer Zahl am Rande geworden? Schaffen wir es noch, denjenigen, denen es schließlich tatsächlich gelingt bis zu uns zu kommen, Empathie entgegen zu bringen? Zu verstehen, dass sie ihre geliebte Heimat verlassen mußten, weil ihnen Hunger, Gewalt und Tod drohten? Dass sie alles was sie hatten zurücklassen mußten? Sehr viele dieser Geflohenen sind jung, so jung wie meine Großmutter, als sie sehr widerwillig floh um ihr nacktes Leben zu retten. Wie gesagt, kam sie nie zurück. Breslau wurde 1945 fast komplett zerstört, heißt heute Wroclaw und liegt in Polen. Aber sie gründete in Palästina eine Familie, bekam zwei Söhne von denen einer, mein Vater, heute hier sitzt. Er entschied sich ausgerechnet nach Deutschland auszuwandern und so stehe ich hier heute vor Ihnen.
Wir alle, die wir uns heute hier versammelt haben, sind Zeugen und Nachkommen von Zeugen.
Wir können auch mit tausend Gebeten das nicht ungeschehen machen, was passiert ist.
Was wir tun können ist uns gemeinsam zu erinnern. Gemeinsam der Opfer zu gedenken, die Teil unserer Gesellschaft waren und aus ihr herausgerissen wurden. Und wir müssen versuchen, Lehren für uns zu ziehen: Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit müssen wir bekämpfen! Wir sind G´tt gegenüber verpflichtet, unseren Mitmenschen und nicht zuletzt uns selber: unserem eigenen Gewissen gegenüber. Wollen wir erhobenen Hauptes durch das Leben gehen, müssen wir manchmal unsere Stimme erheben.
Jeder Mensch hat eine Stimme und nur eine Stimme. Jeder Mensch hat eine individuelle Stimme, mit der nur er Dinge auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken kann, und niemand außer ihm. Niemand kann statt ihm sprechen, nur mit ihm gemeinsam. Wir können unser Leben verstreichen lassen, ohne unsere Stimme je benutzt zu haben. Wir können immer wegschauen und uns nur um unsere persönlichen Belange kümmern. Oder wir nutzen unsere einzige Chance die wir auf dieser Welt haben und versuchen, für das einzustehen, was wir als richtig erachten und setzen uns ein für Menschlichkeit, Frieden und Würde.
Jasmin Andriani, Januar 2017