Liebe Freunde, wir gedenken in diesem gemeinsamen Gottesdienst der Menschen, die in der Schoah gepeinigt und ermordet wurden.
Wir wollen sie nicht vergessen, die Familien Schaul und Wasserman und Lothar Thekel, von der Annika, Ulrike + Sandra uns vorhin erzählt haben – wofür wir euch danken – und deren unzählige Leidensgenossen.
Denn wie der große chassidische Meister, genannt Baal Schem Tow, „der Meister des guten Namens“, schon im 18. Jahrhundert sagte:
Das Vergessen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung aber heißt Gedenken.[1]
So verdeutschen und verdeutlichen manche seine schlichten Worte, über die wir hier vor zwei Jahren schon gesprochen haben.
Im wortkargen Hebräisch sind es nur vier kraftvolle, wie in Stein gemeißelte Worte. Diese stehen über dem Eingang zur Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.
lisch’khoach galut, lis’chor ge’ula
Vergessen: Exil; Gedenken: Erlösung
Auf ihrem langen Weg haben die Kinder Israels aus der Torah gelernt, nicht vergesslich zu werden. „Sachor“, Gedenke: 169 mal kommt das Wort im Tenach, der hebräischen Bibel, vor.
Immer wieder wird Israel aufgefordert, alles Gute, was Gott ihnen getan hat, zu gedenken, wie er sie aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt und mit ihnen am Sinai einen Bund, eine richtige Partnerschaft, geschlossen hat.
Auch Gottes früherer Großtaten hat Israel zu gedenken: der Bundesschlüsse, die er mit Noah und seinen Kindern (das sind wir Menschen alle), mit Abraham und seinen Nachkommen schloss, der Barmherzigkeit, die Gott uns Menschen immer wieder gezeigt hat, des ganzen Weges, auf dem der Ewige das jüdische Volk begleitet hat, bis hierher, bis heute.
Wiederholt wird das Volk in der Schrift gemahnt, auch zu gedenken, wie es auf die Liebestaten Gottes geantwortet hat: ob es seinen Anteil an dieser unerhörten Partnerschaft beigetragen hat? ob es das Seine getan hat, um das Leben der Menschen menschlich zu machen?
Gedenken sollen sie auch des Bösen, was ihnen angetan wurde. “Denk daran, was dir Amalek getan hat auf dem Weg, als ihr aus ִÄgypten zogt,” mahnte Mose damals, 40 Jahre danach, zu lesen im 5. Buch der Torah (5. Mose 25:17). In unserem Zeitalter, vor 65 Jahren, hat Amalek Deutsch gesprochen.
Wenn ich an die Verlassenheit und das Leiden der Auschwitz-Gefangenen denke, fehlen mir die Worte.
Wenn es Ihnen auch so geht, dann werden vielleicht auch Sie die Reaktion des Volkes Israel auf das Trostwort des Propheten verstehen, das Ulrike uns vorhin aus dem 49. Kapitel der Jesaja-Rolle vorgetragen hat.
Ich lese ab V. 13 (bis V. 18 inkl.)
Dort leitet der Prophet ein Zwiegespräch zwischen Gott und seinem Volk ein.
13. Jubelt, ihr Himmel, und frohlocke, du Erde; und ihr Berge, brecht in Jubel aus! Denn der EWIGE hat sein Volk getröstet, und seiner Elenden erbarmt er sich.
14. Zion aber sprach: der EWIGE hat mich verlassen, mein Herr hat mich vergessen.
15. Vergisst (etwa) eine Frau ihren Säugling, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Sollte selbst diese vergessen, ich werde dich nicht vergessen.
16. Siehe, in meine beiden Handflächen habe ich dich eingezeichnet; deine Mauern sind beständig vor mir.
17. Deine Erbauer eilen herbei, deine Zerstörer und deine Verwüster ziehen aus dir hinweg.
18. Erhebe ringsum deine Augen und sieh: sie alle versammeln sich, kommen zu dir. So wahr ich lebe, spricht der EWIGE, du wirst sie alle wie einen Schmuck anlegen und dich damit gürten wie eine Braut.
Nicht nur uns trifft Gottes Wort oft von der blinden Seite. Schon damals vor 2 ½ Tausend Jahren in Babylon, als ein Prophet in einer Synagoge der aus Jerusalem Vertriebenen aufstand und rief:
„Jauchzet, ihr Himmel, und frohlocket, du Erde, brecht in Jubel aus, ihr Berge! Denn der Ewige hat sein Volk getröstet, und seiner Armen hat er sich erbarmt!“,
wollten, konnten die Menschen das gar nicht hören.
Wunschdenken! Schön wäre es! Aber wir sitzen immer noch hier in der Fremde. Seit 50 Jahren liegen Jerusalem und der Tempel in Trümmern. „Zion sprach: Verlassen hat mich der Ewige, mein Herr hat mich vergessen!“ Dies war ihre leidige Erfahrung.
Wie bin ich dankbar, dass die hebräische Bibel solche Erfahrungen der Menschen und ihre Klagen nicht unterschlägt, als ob wir am Auschwitz-Befreiungstag nur an die Befreung denken sollten, und nicht auch an die Ermordeten. Nein, auch an Freudentagen denken wir an die Schattenseiten der Welt!
So ist es bei einer jüdischen Hochzeit Brauch, dass der Bräutigam ein Glas zertritt. Er tut dies in der Stunde seines höchsten Glückes im Gedenken an die wiederholten Zerstörungen Jerusalems und des Tempels, auch im Gedenken an die unzähligen Pogrome über die Jahrhunderte hinweg, und im Gedenken an die Zerstörung des 3. und teuersten Tempels – der Vernichtung der Juden Europas.
Die biblische Tradition besteht nicht aus Zuckerwatte. Sie handelt vom Leben in dieser ungerechten und gewaltsamen Welt, wie wir sie kennen, nicht nur von frommen Hoffnungen, sondern auch vom Widerspruch enttäuschter, „gottverlassener“ Menschen.
Ist es nicht rücksichtslos und grausam, Menschen in Not im Stich zu lassen und ihnen die Hilfe zu verweigern? „Doch verlassen hat mich der Ewige, mein Herr hat mich vergessen.“
Oft spricht die Bibel von Gottes Beziehung zu Israel wie von einer Ehebeziehung zwischen einem Mann und seiner Frau. In der Entstehungszeit der Bibel war eine verlassene Frau recht- und schutzlos, freies Wild, sozusagen. Das schien Gott gar nicht zu kümmern. Von seiner Barmherzigkeit spürte Israel nichts mehr.
So die Anklage des Volkes damals, aber nicht nur damals. So haben auch gepeinigte Menschen in Auschwitz geklagt.
Diese Gottverlassenheit hat auch Jesus aus Nazareth am römischen Foltergalgen gespürt und mit Worten des 22. Psalms gerufen: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“
Auch manchen von uns ist dieses Gefühl nicht fremd. Ich denke an meine Gefühle, als unser 20-jähriger Sohn umgekommen ist, oder an die Gefühle einer von ihrer Familie vernachlässigten alten Frau. Und wie müssen sich die Menschen in diesen Tagen in Port-au-Prince, auf Haiti, fühlen?
„Verlassen hat mich der Ewige. Mein Herr hat mich vergessen!“ Gerade wer von uns sich so fühlt oder schon so gefühlt hat, der oder die höre Gottes Antwort:
„Vergisst wohl eine Mutter das Baby, das sie stillt? Hört sie auf, das Kind ihres Schoßes zu lieben?“ Wohl kaum! „Und selbst wenn (dieses unter Menschen Unvorstellbare doch möglich sein sollte), ich vergesse dich nicht!“
So schlicht spricht der Prophet, weil er unsere gelähmten Herzen entkrampfen und unseren niedergeschlagenen Blick erheben will.
Wenn wir uns nur auf die verhängnisvollen Probleme konzentrieren, wenn wir starr am Beklagen unserer hilflosen Lage festhalten, oder auch wenn wir uns wehmütig und frömmelnd an Träume von Vergangenem klammern, können wir taub werden für Gottes Wort und blind für Zeichen seines Erbarmens und für seine konkreten Hilfsangebote. Das Prophetenwort wollte damals den eingeschränkten Horizont deprimierter Juden in Babylon erweitern, und es will uns heute aus solcher Fixierung befreien.
Wie Gottverlassen sich Israel fühlen mag, liegt es Ihm mehr am Herzen als einer Mutter ihr Säugling. Den kann sie gar nicht vergessen, selbst wenn sie wollte.
Zum Glück will und kann Gott manches vergessen.
Im Midrasch, der klassischen jüdischen Auslegung dieses Jesaja-Textes, wird Gott vom Volk Israel gefragt: „Wenn Du aber nichts vergisst, vielleicht vergisst du mir auch nicht die Sünde mit dem goldenen Kalb?“
Gott erwidert: „Deine Sünden mögen vergessen werden … dich aber werde ich nicht vergessen.“ Und weiter: „Das Böse vergesse ich, das Gute vergesse ich nicht“.
Die Rabbiner erklärten weiter:
Das Böse vergesse ich, das, was du (Israel) beim goldenen Kalb ausgerufen hast: „Dies sind deine Götter, Israel!“ (Ex 32,4).
Das Gute vergesse ich nicht, als du mir am Sinai sagtest: „Alles, was der Ewige gesprochen hat, wollen wir tun und hören“ (Ex 24,7).
Auch wenn Gott sich über uns ärgert, und davon ist in der Bibel genug die Rede, „ nicht auf immer ist vergessen der Arme“, so Psalm 9, „der Elenden Hoffnung wird nicht auf ewig enttäuscht.“ (Ps 9,19)
„Siehe, ich habe dich auf meine Handgezeichnet“, spricht Gott. (Deinen Namen habe ich in meiner Handfläche geritzt) „Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, werde vergessen meine rechte Hand.“(Psalm 137,5)
„Deine Mauern sind immerdar vor meinen Augen.“ Gemeint sind die zerstörten Mauern Jerusalems, die wieder aufgebaut werden mussten.
Dazu mussten die Rückkehrer in harter Arbeit die Trümmer abtragen – wie die Trümmerfrauen Berlins vor 60 Jahren – und das verödete Land wieder bewohnbar und fruchtbar machen. Gott nahm ihnen die Arbeit nicht ab. Er löste nicht alle ihre Probleme. Aber er schenkte ihnen die Chance eines Neuanfangs.
Aus der Bibel können wir lernen, die Erfüllung von Gottes Verheißung weniger als einen Schlusspunkt zu betrachten, sondern vielmehr als die Eröffnung einer neuen Perspektive, einer neuen Chance.
Die biblischen Verheißungen gelten noch heute. Sogar für uns Heiden gelten sie, gerade in unserer ungerechten und friedlosen Welt, trotz unserer gegensätzlichen Erfahrungen.
Können Sie das glauben, liebe Freunde? In meinem Leben habe ich es nicht immer glauben können.
Nach Auschwitz haben viele Überlebende nicht mehr an Gott glauben können. Menschen wie Elie Wiesel und unser Lehrer, Jehuda Aschkenazy, konnten lange nicht darüber sprechen. Ihnen war die Kehle wie zugeschnürt. Und wenn sie ihre Stimme endlich wieder fanden, konnten sie nur ihr Entsetzen gegen Gott hinausschreien. Erst viel später haben sie sich langsam der Tradition ihrer Familien und ihres Volkes wieder annähern und Gottes Verheißungen wieder vertrauen können.
Es ist gut, liebe Freunde, wenn wir nicht alle gleichzeitig unser Gottesvertrauen verlieren. Möge es immer Menschen in unserer Nähe geben, die – trotz alledem und alledem – weiterhin an der verheißungsvollen Torah-Tradition festhalten und danach leben, damit wir, wenn wir uns von Gott verlassen fühlen, an sein Wort erinnert werden:
Vergisst wohl eine Mutter ihren Säugling?
Hört sie auf, den Sohn ihres Schoßes zu lieben?
Und wenn sie es vergäße, ich vergesse dich nicht!
AMEN
LIED Nr. 290 Nun danket Gott, erhebt und preiset (Ps 105)
Vv. 1 – 2 + 6 – 7 (die 2 ersten und 2 letzten Vv.)
Trauerkaddisch
[1] „L’oubli, c’est l’exil, mais la mémoire est le secret de la délivrance“
Dr. Thomas Day