Predigt zum Israelsonntag, 27.7.2008

Predigt zum Israelsonntag, 27.7.2008

Liebe Freunde,

zuerst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, in Ihrer Kirche eine Predigt zum Tischa be’Aw zu halten. Predigt, das ist ein großes Wort für mich, der ich das Predigen nicht gewohnt bin, zumal in einer Kirche. Ab und zu habe ich früher in einer Synagoge ein Dwar Tora, ein Wort zum biblischen Wochenabschnitt gesprochen, doch wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich jemals in einer Kirche „predigen“ würde, hätte  ich ungläubig geantwortet, dass dies nicht sein kann. Doch wie wir wissen, ist das Leben immer voller Überraschungen und so nehme ich die Herausforderung an und hoffe, dass die Gedanken, die ich hier zu einem traumatischen Ereignis im Leben des jüdischen Volkes, der Zerstörung des heiligen Tempels in Jerusalem sowie seiner Folgen äußern werde, zum Nachdenken anregen werden. 

Tischa be’Aw, das ist der neunte Tag im Monat Aw nach dem jüdischen Kalender, den wir hier etwas vorgezogen begehen. Am Tischa be‘aw wurde der Überlieferung zufolge sowohl der erste als auch der zweite Tempel zerstört. Die Zerstörung des ersten, von König Salomon gebauten Tempels erfolgte durch die Babylonier im Jahre 586 v.Z,, die des zweiten durch die Römer im Jahre 70 n.Z. Im Jahre 70 wurde der große Aufstand der Juden gegen die römische Herrschaft, die mit der Eroberung des Landes durch Pompejus im Jahre 66 v.u.Z. begonnen hatte, endgültig niedergeschlagen. Das Datum markiert den Beginn der Diaspora, obwohl historisch nicht ganz richtig, da ein großer Teil der Juden zu dieser Zeit außerhalb von Eretz Israel, des Landes Israel, lebte.

Der Umgang mit dem Trauma des Verlusts erfolgte auf verschiedene Art und Weise: Das jüdische Volk war seit der Zerstörung bestrebt, ständig an den Tempel zu erinnern, um dadurch die Verbindung zum Lande Israel, zu Jerusalem und eben zum Tempel nicht abreißen zu lassen und im kollektiven Bewusstsein des Volkes zu verankern. Dies geschah zum Beispiel durch den Bau von Synagogen, deren Symbolik in vielerlei Hinsicht an den Tempel erinnerte. Nicht umsonst wurde die Synagoge auch „mikdasch meat“, Tempel im Kleinen, genannt. Die Verbindung zum Tempel und zu Jerusalem wurde auch im Gebet hergestellt, namentlich im sogenannten 18er Gebet, das dreimal täglich gesprochen wird und in dem für den Wiederaufbau des Tempels, wohlverstanden im Zusammenhang mit dem Kommen des Messias, gebetet wird. Auch der Brauch, an einer jüdischen Hochzeit ein Glas zu brechen, wird, einer Interpretation zufolge, mit der Zerstörung des Tempels in Verbindung gebracht. Und nicht zuletzt ist es eben dieser Tischa beAw, Tag der Erinnerung an den Verlust des Tempels und Tag der Trauer wegen seiner Zerstörung, der von praktizierenden Juden als Fasttag – man fastet von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – alljährlich begangen wird.

Gestatten Sie mir, dass ich es bei diesen wenigen Beispielen bewenden lasse. Bedeutender scheint mir die Frage, wie es dazu kam, dass das jüdische Volk ohne sein nationales und religiöses Heiligtum und ohne sein eigenes Land weiter existieren konnte und dies fast 2000 Jahre lang. In dieser Zeit war die Diaspora der zentrale Zustand in der Existenz des jüdischen Volkes.

Ich bin natürlich nicht in der Lage, eine umfassende Antwort auf diese Frage zu geben, sicherlich nicht in der mir hier zur Verfügung stehenden Zeit, sondern lediglich eine bestimmte Komponente dieser Frage zu beleuchten, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Und so komme ich auf die zentrale Gestalt der heutigen Predigt, Jochanan ben Zakkai zu sprechen, dessen Satz ich zum Motto dieser Predigt gewählt habe: Lo amut ki echije um’saper maasei ja: Ich werde nicht sterben, sondern leben, um das Wort Gottes weiterzugeben. Wer war dieser Jochanan Ben Zakkai? Unser Wissen über ihn entnehmen wir dem Talmud. Er war ein Schriftgelehrter und Schüler des Weisen Hillel, ein für seinen Sanftmut und humane Weltsicht bekannter Gelehrter . Während des Aufstandes ließ Jochanan eine Frage keine Ruhe: Wie würde das jüdische Volk nach dem Fall Jerusalems und des Tempels weiterexistieren können, eine angesichts des realen Kräfteverhältnisses zwischen den jüdischen Aufständischen und der römischen Übermacht sicher scheinende Tatsache? Wie könnte es möglich sein, nicht zu sterben, sondern zu leben, um das Wort Gottes weiter zu erzählen. In heutigen Begriffen war Jochanan Ben Zakkai ein Gemäßigter, jemand, der im Gegensatz zu der extremen Partei der Zeloten stand. Die Zeloten führten in Jerusalem einen Bürgerkrieg gegen ihre gemäßigteren innerjüdischen Feinde; ihre Devise war weiterkämpfen bis zum bitteren Ende, auch wenn keine Aussicht auf Erfolg bestand . (Übrigens waren es die Zeloten, die in der Festung Massada oberhalb des Toten Meeres kollektiven Selbstmord begingen, kurz bevor die Festung von den Römern erobert wurde) Der Legende nach wurde Jochanan ben Zakkai von seinen Schülern in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem getragen, woraufhin er sich zum römischen Oberbefehlshaber, dem späteren Kaiser Vespasian begab. Auf dessen Frage, was er denn von ihm wolle, soll Jochanan geantwortet haben: „Gib mir Yavne und seine Weisen“. Und so wurde den Juden nach der Zerstörung des Tempels ermöglicht, in Yavne in der Nähe von Yaffa  ein Lehrhaus zu errichten. Dort scharten sich die wichtigsten Schriftgelehrten um Jochanan Ben Zakkai. Die Kontinuität der Lehre war gewahrt. Das Sanhedrion, zu Zeiten des Tempels die höchste jüdische religiöse, rechtliche und politische Instanz, wurde in Yavne wieder ins Leben gerufen, doch dieses Mal in einer anderen Zusammensetzung. Die Partei der Sadduzäer, der Priesterschaft, hatte infolge der Zerstörung des Tempels die Macht verloren. Zur einflussreichsten Strömung wurden die Pharisäer, die Schriftgelehrten, deren Einfluss mehr auf ihrer Gelehrsamkeit beruhte als auf politischem Einfluss oder gar Reichtum.

Und diese Schriftgelehrten waren es, die nach Jerusalem in Yavne, in der Folge aufgrund der sich schnell ändernden politischen Umstände anderswo im Lande Israel und später in den nach und nach entstehenden Zentren der jüdischen Diaspora, in einem kontinuierlichen Prozess die sogenannte „mündliche Lehre“ entwickelten, als Ergänzung und Interpretation zur offenbarten schriftlichen Lehre, der Bibel. Es entstanden Mishna, die große religionsgesetzliche Synthese der Rabbinen (Schriftgelehrten)und dann gleichsam als Kommentar dazu der Talmud, wobei wir zwischen dem Jerusalemer Talmud, der in Eretz Israel entstand und dem etwas später in Babylonien verfassten Babylonischen Talmud unterscheiden. Mischna und Talmud sowie die später entstandenen religionsgesetzlichen Werke regeln das Leben der Juden in seiner ganzen Vielfalt und behandeln unter anderem den Alltag, den Feiertag, Familie, Ehe, Sexualität, Arbeit, rechtliche Fragestellungen und vor allem die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Und diese Lehre, sowohl die schriftliche als auch die mündliche, nahmen die Juden überall mit, wo immer sie lebten, in ihrer langen, von Wanderungen geprägten Geschichte. Sie wurde zu einem Art Ersatz für die verlorene Heimat im Lande Israel, für die Stadt Jerusalem und den zerstörten Tempel. Heinrich Heine sprach einmal, in Anspielung auf die Bibel, vom portativen, d.h. tragbaren Vaterland der Juden, doch denke ich, dass man den Begriff ruhig auf das gesamte religiöse Schrifttum ausdehnen kann. Dieses Religionsgesetz blieb im Wesentlichen bis zur Aufklärung und der in ihrer Folge einsetzenden Säkularisierung die Verfassung des jüdischen Volkes.

Generationen von Gelehrten studierten ein Leben lang Tora and Talmud, was als eine besondere Form der Lobpreisung Gottes galt. Im Judentum ist Lernen eine religiöse Pflicht und ein Ideal und nicht das Privileg einer bestimmten Schicht. Der Prozess des Lernens beginnt in der frühen Kindheit, dauert ein Leben lang und ist niemals abgeschlossen.

All dies hatte Jochanan Ben Zakkai vor Augen, als er das Lehrhaus in Yavne errichtete. Er hatte verstanden, dass es in der Realität von damals von zentraler Bedeutung war, mehr als ein Land eine Identität und eine Ideologie zu besitzen, um den Fortbestand des Volkes zu sichern. Sein Verdienst ist es, ermöglicht zu haben, dass der Tempel gleichsam in der Lehre und im Studium der Schriften fortbestand. Nathan Peter Levinsohn, einer der wichtigsten Rabbiner in Deutschland nach der Schoah, schreibt, dass Jochanan ben Zakkai durch sein Wirken die jüdische Lehre vor dem Untergang rettete.

Welches sind die Lehren aus dem Untergang des Tempels für die heutige Zeit aus meiner Sicht? Ich bin der Ansicht, dass wir kein aufwändiges Heiligtum mit Priesterschaft und Opferkult benötigen. Der Tempeldienst fand im synagogalen, von Gebet und Wort geprägten Gottesdienst in seinen unterschiedlichen Ausprägungen einen würdigen und schlichten Nachfolger. Die Wiedererrichtung des Tempels ist lediglich als messianische Verheißung zu verstehen und nicht als konkretes reales Programm. Und bis zur Ankunft des Messias ist, wie immer diese interpretiert wird, der Weg noch sehr weit. Und in der Zwischenzeit ist es für uns Juden, sei es in Israel oder in der Diaspora, von größter Wichtigkeit, durch gelebtes, auf Wissen fußendes Judentum, die Kontinuität des Volkes zu sichern. Und damit meine ich ein breites Spektrum von Wissen, das Religion, Geschichte und Kultur in ihrer ganzen Vielfalt umfasst. Wie Sie alle wissen, ist dies vor dem Hintergrund eines großen Verlusts an jüdischer Substanz und Identität überall in der Welt keineswegs eine Selbstverständlichkeit und eine umso größere Herausforderung für unsere und auch für die kommenden Generationen. Hier ist das Schlüsselwort jüdische Erziehung und Bildung für alle Altersstufen, die es zu fördern gilt. Nur so ist es möglich, diesen Schatz, der allen Widrigkeiten und Turbulenzen zum Trotz bis zum heutigen Tage überlebt hat, weiterhin im Geiste Jochanan Ben Zakkais und der Schriftgelehrten zu bewahren und zu entwickeln.

Liebe Anwesende, zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass Sie durch Ihre Teilnahme am heutigen Gottesdienst Ihr Interesse am Judentum und am jüdischen Lernen sowie an einem von gegenseitigem Respekt geprägten Miteinander von Juden und Christen bekunden. Und für diesen wichtigen Beitrag gebührt Ihnen mein ganz herzlicher Dank.

Nicholas Yantian

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