Predigt zum 4. So. v. d. Passionszeit – Jesus wandelt auf dem See Genezareth

Von Pfarrer Christopher Piotrowski. Gehalten in der Laurentiuskirche Berlin-Spandau am 6. Februar 2022.

22 Alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Evangelium nach Matthäus 14,22–33

Liebe Geschwister,

was für eine Nacht muss das für die Jünger gewesen sein. Es dauert normalerweise wenige Stunden, um mit dem Boot den See Genezareth, das „Galiläische Meer“ zu überqueren. 13 Kilometer misst es an der breitesten Stelle. Bei einem sehr langsamen Boot sind das vier oder fünf Stunden.

Seit dem Abend des vergangenen Tages aber ist das Boot der Jünger schon die ganze Nacht hindurch unterwegs. Aus der Ferne, von einem Berg aus, sieht Jesus, dass das Boot in Not ist, gegen Wind und Wellen ankämpft. Das Boot, in das Jesus seine Jünger hineingedrängt hatte, damit sie ans andere Ufer kämen. Das Wort, das hier im Griechischen steht, ist noch härter: Jesus zwang (ἀναγκαζειν) seine Jünger in das Boot hinein, um von ihm wegzufahren. Zuvor hatte er 5000 Menschen gespeist, nun wollte er ganz alleine beten.

Vielleicht mussten die Jünger in das Boot gezwungen werden. Vielleicht wollten sie gar nicht fahren, weil sie den Sturm kommen sahen. Vielleicht erschien ihnen das, was ihr Meister von ihnen forderte, wie Wahnsinn. Und ja, es war Wahnsinn – wie eine Nussschale wurde ihr Boot drei Nachtwachen lang, etwa neun Stunden von Wind und Wellen auf dem See hin und her geworfen.

Ich bin ganz sicher: In dem Moment haben sie es bereut, auf Jesus gehört zu haben. Nach dieser nächtlichen Erfahrung wird auch der letzte von ihnen sich in seinem Herzen geschworen haben, sich von Jesus, diesem Irren, abzuwenden, sollte er diese Nacht überleben. Ihr Meister hatte sie in diese Situation gebracht und hat sie verlassen; war irgendwo weit weg oben, wo man ihn nicht sieht, wo man ihn nicht erreicht. Völlig entkräftet muss ihnen deutlich gewesen sein: Ihr Leben war verwirkt.

Die vierte Nachtwache beginnt. Das ist die Zeit ungefähr zwischen 3 und 6 Uhr morgens. Würde es nicht stürmen, wären da nicht die schwarzen Wolken am Himmel, vielleicht könnte man ein Morgengrauen erahnen. Diese Zeit wurde von den Römern auch Gallicinium genannt, deutsch: Hahnengeschrei. Es ist der Teil der Nacht, in dem normalerweise die Hähne anfangen zu krähen, zu schreien, um den Tag zu begrüßen. Doch in dieser Nacht hört man nur das Angstgeschrei der Jünger. In ihrer Not begegnet ihnen eine Erscheinung: Eine Gestalt, die im Dunkel auf dem Wasser läuft. Ein Gespenst? Hatte sich das Totenreich geöffnet, um die Jünger zu verschlingen?

Doch Jesu Stimme erklingt: Seid getrost. Ich bin’s, fürchtet euch nicht!

Die biblischen Texte sind oft recht karg darin, Gefühle zu beschreiben. Doch was die Jünger in diesem Moment empfunden haben, muss unbeschreiblich gewesen sein, überwältigend. Nicht der Tod erwartet sie auf dem Wasser, sondern das Leben, ihr Meister. Nicht ihre Verzweiflung, nicht ihre Angst, nicht die Not sprechen das letzte Wort, sondern Jesus.

Es ist die Zeit des Hahnengeschreis, der früheste Morgen. Wir wissen, dass das für Petrus eine schwierige Zeit ist. Und auch dieser Morgen ist keine Ausnahme: Im Überschwang wird er leichtsinnig; in der Nachfolge Jesu fühlt er sich unangreifbar, unverwundbar. Jesus hatte ihm befohlen, in dieser Sturmnacht das Boot zu besteigen und Jesus hat ihn gerettet. Nun soll Jesus ihm auch befehlen, zu ihm zu kommen – auf dem Wasser!

Jesus befiehlt und Petrus geht. Es gelingt ihm. Die Begegnung mit Jesus hat ihn ganz herausgerissen – Jesus ist in dem Moment sein ganzes Leben, seine ganze Existenz, für Petrus gibt es nichts außer seinen Heiland und Meister. Eine geradezu mystische Erfahrung. Doch sie währt nicht lange. Die Wirklichkeit klopft an. Der Sturm und die Wellen holen Petrus in die irdische Realität zurück. Seine mystische Verbindung mit Jesus wird unterbrochen, er stürzt in das dunkle Wasser hinein. Die Todesfurcht durchfährt ihn wieder – doch nun kann er rufen: „Herr, rette mich!“ Jesus rettet ihn; aber nicht, ohne ihn als „Kleingläubiger“ für seinen Zweifel zu schelten.

Jesus und Petrus steigen zusammen in das Boot. Der Wind wird stille. Der Zweifel und die Verzweiflung der Jünger haben sich in ihr Gegenteil gekehrt: in größtes Vertrauen und in Zuversicht auf Jesus. Am Ende fallen sie vor Jesus in Demut und Ehrerbietung nieder und bekennen: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“

In dieser Erzählung spiegelt sich – man erkennt es deutlich – die Erfahrung der frühen christlichen Gemeinden wider: Die andauernde Gefahr, in der sie standen: das Verlassensein von Familie und Freunden, Verfolgung, Martyrium und auch Tod. Die Erfahrung der Jünger zeichnet all das vor: Im Wüten der Wellen und im Brausen des Sturms erkannten die frühen Christen ihr eigenes Geschick wieder. Und noch eine weitere Ebene strahlt in dieser Erzählung hindurch: Die Taufe. Das Bekenntnis der Jünger am Ende: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“, ist das Taufbekenntnis der frühen Kirche gewesen. Die Erzählung von den Jüngern auf dem Meer ist die Erzählung ihrer Taufe.

Hineingezogen in den größten Schmerz, in Angst und höchste Gefahr der Nachfolge und des Gehorsams Jesu – und herausgehoben in die größte Freude, Gewissheit und Sicherheit der Gemeinschaft mit Jesus, die die größten Wundertaten ermöglicht – Petrus geht auf dem Wasser! – aber auch im Scheitern – Petrus versinkt! – Rettung ermöglicht – Jesus ergreift ihn bei der Hand!

Keine Angst zu haben, auf die Rettung zu vertrauen, die uns verheißen ist, mutig zu sein – das sind Voraussetzungen. Voraussetzungen, um Wagnisse einzugehen, zu denen uns Jesus Christus selbst drängt. Er drängt uns, uns in Unsicherheit zu begeben, nicht an unserem Sein und Haben und Erreichtem festzuhalten, sondern uns von all dem zu lösen, um ihm zu folgen, um ihm zu gehorchen. Die Liebe Gottes ist das größte Wagnis; das haben die frühen Christen erfahren. Sie ist der Grund für ihr Leiden, sie ist der Grund, für Jesu Verurteilung zum Tod am Kreuz. Doch die Liebe Gottes ist Grundlage aller Hoffnung, aller Errettung, Grund für die Gemeinschaft aller Menschen in seinem Reich der Freude schon hier auf Erden.

Wenn die Wellen hoch gehen, der Sturm euer Leben aufwühlt, die Furcht wächst; so haltet fest an der Liebe, an der Liebe Gottes in Christus. Denn sie hält auch euch. Amen.