Von Pfarrer Christopher Piotrowski in der Andacht zur Todesstunde Jesu in der Laurentiuskirche
Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen. Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug. Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Matthäus 27,31-50
Gott gebe euch Kraft nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Amen.
Liebe Brüder, liebe Schwestern,
wie sieht eine Welt ohne Gott aus? Könnt ihr euch das vorstellen? Wollt ihr euch das vorstellen? Sich eine Welt ohne Gott vorzustellen, ist ein Gedankenexperiment, normalerweise von Menschen ohne Religionszugehörigkeit empfohlen, Atheisten.
Hinter diesem Gedankenexperiment steht die Hoffnung, Menschen von ihrem Glauben abbringen zu können. Einem Glauben, der von manchen Nichtgläubigen für irrational gehalten wird, für unlogisch, für rückständig oder gar für gefährlich. Und, zugegeben, nicht selten treffen solche Unterstellungen auf mancherlei Weise zu. Auch bei vielen Christinnen und Christen.
Üblicherweise wird vor dem Hintergrund dessen, was für „Religion“ gehalten wird, ein Gegenbild gezeichnet. Man fängt mit naturwissenschaftlichen Theorien an – es brauche Gott doch gar nicht, um die Welt und ihre Entstehung zu erklären. Und ja, sie haben recht: Die Naturwissenschaften kommen ohne die „Hypothese Gott“ sehr gut zurecht, um ihre Theorien und Modelle zustandezubringen. Viel besser noch als mit.
Nach den Naturwissenschaften wird die Geschichte ins Feld geführt: Kriege, die im Namen von Religionen geführt wurden und auch heute noch werden; Gewalt, die im Namen von Religionen zur Unterdrückung und Kontrolle von Menschen eingesetzt wurde und wird. Sowas gab es zwar in neuerer Zeit und gibt es auch immer noch im atheistischen Bereich, doch auch dieser Einwand ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Eine Überlegenheit einer Welt mit Gott bzw. mit einem Glauben an Gott gegenüber einer Welt ohne Gott ist nicht erkennbar.
Sodann kommt die Moral religiöser Institutionen und ihrer Vertreter auf den Plan. Und auch hier sieht es nicht gut aus. Missbrauch in beiden Kirchen, Gier und Gewinnsucht, Geltungsanspruch und Manipulation – all das gibt es im Christentum in Deutschland, auf der Welt und auch in anderen Religionen. Was diesen Umstand besonders verwerflich macht, sind Strukturen von Institutionen, die solches Verhalten begünstigen.
Wer es hier noch schafft, diesen atheistischen Speerspitzen ruhig gegenüber zu stehen, den erwartet noch eine weitere: Die Unglaubwürdigkeit von Glaubensüberlieferungen. Ja, die Bibel ist voll von Dingen, von denen wir mit unserem Verstand einwandfrei erkennen können und wissen müssen, dass sie nicht möglich sind.
Das ist uns klar. Man kann nicht über Wasser laufen, wer von Kind an gelähmt ist, steht nicht einfach auf und Tote werden nicht plötzlich wieder lebendig. Das alles sei Wunschdenken und Illusion. Bestenfalls könne man damit noch eine diffuse Angst vor dem Tod übertünchen.
In einer Welt ohne Gott wären die Menschen vernünftiger, freier, ginge es gerechter zu und noch vieles andere wird mit der Vision einer Welt ohne Gott bzw. ohne Glauben suggeriert. Man könne sich echten und ernsthaften Problemen zuwenden. So die Behauptung.
Heute ist Karfreitag. Dieser Tag ist ein Tag, der das Christentum unter den Religionen hervorhebt. Denn es ist der Tag, an dem sich Gott aus der Welt hinausdrängen lässt. Es ist der Tag, an dem Gott als der Abwesende erscheint. Nicht der „Ich bin“, sondern der „Ich bin nicht“. Dieser Tag erscheint als die Verkehrung der göttlichen Offenbarung: Es ist der Tag der Verhüllung Gottes.
Gott ist an Karfreitag der, der sich den Menschen nicht zeigt. Gott ist an Karfreitag der, der nicht tröstet. Keiner, der sich als stark und mächtig erweist. Keiner, der auf das Gebet und Flehen der Menschen hört. Der, der verlässt. Gott erscheint als einer, der den Dingen seinen Lauf lässt, der geschehen lässt, der aufgegeben hat.
Was passiert, das passiert eben: in aller Härte und Grausamkeit, wie sie sich in der Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu zeigen. Da kommt nichts von Gott, was das Leiden mildert oder die Schmerzen dämpft. All das entspricht überhaupt nicht dem, was wir von Gott erwarten und erhoffen. Karfreitag holt uns auf den harten Boden der Wirklichkeit ohne Gott.
Vielleicht sollte ich besser sagen: Ohne eine Illusion von Gott. Denn Gott ist in dem ganzen Geschehen nicht fort. Er ist nur dort, wo ihn keiner wahrnimmt. Er ist derjenige, der die Härte des Bodens der Wirklichkeit spürt. Er ist derjenige, der die Welt ohne die Illusion der Menschen von Gott erleidet. Er ist derjenige, der den Spott erträgt, er möge sich doch selbst helfen. Er ist derjenige, der in den Tod geht. Gott ist die ganze Zeit da. Er ist es nur nicht als die Illusion, die sich die Menschen von ihm machen.
Gott ist da als Jesus Christus. Und so offenbart sich Gott in Karfreitag neu. Gott ist nicht der, der getrennt von allem über allem schwebt. Gott ist nicht der, der kämpft und streitet und Macht für die Menschen erlangen will. Gott ist nicht der, der wie eine Zauberhand aus einer Not herausreißt und ihnen hilft. Sondern Gott ist an Karfreitag allein der, der die Menschen liebt. Und zwar auch die Menschen, die verblendet seinen Tod wollen und herbeiführen. Der auch die Menschen liebt, die ihn in Jesus nicht sehen. Gott ist der, der die Menschen liebt und für sie den Tod erleidet.
Die Atheisten haben recht mit dem, was sie sagen, so lange sie damit die Illusion meinen, die wir vielleicht von Gott haben. Sie haben so lange recht, wie wir, wenn wir von Gott reden, nicht von Jesus Christus am Kreuz sprechen, der uns liebt.
Amen.