Lorenz Wilkens: Predigt zum Israelsonntag 2018 (5. Buch Mose, Kapitel 7, Verse 6-12)

Predigt über 5. Buch Mose, Kapitel 7, Verse 6–12 am 5.8.2018 (dem Israel-Sonntag) in der Laurentiuskirche:

TE ELEGIT DOMINUS DEUS TUUS UT SIS EI POPULUS PECULIARIS1

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker — denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. 9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust. 12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat. (5. Mose 7, 6–12)

Liebe Gemeinde,

vor bald dreißig Jahren, als ich Pfarrer im Wedding war, kam nach einem Gottesdienst ein jüngerer Mann zu mir, der zum inneren Kreis der Gemeinde gehörte, und sagte: „Wissen Sie, ich habe nichts gegen die Juden, überhaupt nichts. Aber daß sie sich für das auserwählte Volk halten, das verstehe ich nicht. Wollen sie damit nicht doch etwas Besseres sein als alle anderen Völker?“ Diese Äußerung versetzte mich in Verlegenheit. Ich wußte zwar, daß dieser Gedanke zu den Elementen des Antisemitismus gehört, hatte aber noch nie darüber nachgedacht, wie man ihm begegnen soll. Und nun verhilft uns der Abschnitt aus dem 7. Kapitel des Deuteronomiums — der großen Abschiedsrede des Mose — zu solchem Nachdenken.

Ja, dort heißt es: „Dich — Israel — hat der Herr, dein Gott, aus allen Völkern auf der Erde für sich erwählt als sein eigenes Volk.“ Und ich füge die in V. 7f enthaltene Begründung an: „Nicht weil ihr zahlreicher wäret als alle anderen Völker, hat sich der Herr euch zugewandt und euch erwählt — denn ihr seid das kleinste von allen Völkern –, sondern weil der Herr euch liebte und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen hatte, darum führte er euch heraus mit starker Hand und befreite dich aus dem Sklavenhaus, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.“ Demnach besteht der Grund der Erwählung Israels in Liebe und Treue als Motiv seiner Befreiung.

Das Fundament der Treue Gottes war bedeutend älter als die ägyptische Fremdherrschaft. Es war der Bund, den Gott einst mit Abraham geschlossen hatte; so geschehen in Haran, noch in dem großen Reich des Zweistromlandes: „Ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du wirst ein Segen sein.“ (Gen 12,2) Es war der Ursprung der tiefen Bindung zwischen Gott und Israel, der Ursprung ihres Bundes. Und die Bundestreue machte sich, als Israel in Ägypten mit Fronarbeit unterdrückt wurde, in Gott als Liebe geltend.

Die Liebe als Motiv der Befreiung — das können und müssen wir zunächst ganz menschlich verstehen: Wenn ich jemanden liebe, so gehört dazu unwillkürlich der Wunsch, daß er in Freiheit leben möge. Denn nur in Freiheit kann er sein Wesen deutlich äußern und entfalten; nur daraus kann die wechselseitige Entfaltung entstehen, die der Wunsch der Liebe ist. Nur in Freiheit kann Israel die Vielfalt der Schöpferkraft Gottes erfahren. Nur wenn es frei ist, kann Gott der Herr in ihm ein Bild und Gegenüber seiner schöpferischen Freiheit erkennen. Solche Erkenntnis aber ist ein Teil der Liebe. Wir sehen, der Bund zwischen Gott und seinem Volk ist als Motiv des Auswegs aus der Herrschaft eines großen Reiches entstanden; er hat sich in Mose als Motiv des Auszugs aus Ägypten erneuert und bewährt. Die Gotteserkenntnis, die dem Bund entspringt und entspricht, hat sich in der Geschichte Israels — seiner eigenen Monarchie und der von ihm immer wieder neu erfahrenen Fremdherrschaft — als Motiv der Treue zu sich selbst und der Treue zu dem freien Gott erwiesen. Daher kann und darf Israel seine geschichtliche Erinnerung in dem Satz zusammenfassen: Wir können in Gott den Schöpfer erkennen, weil er uns liebt.

Und nun steigt in uns eine Einsicht auf, die zunächst beklemmend wirkt, sich aber in ihrem weiteren Verfolg als befreiend erweisen kann: Die Entrüstung über die angebliche Anmaßung Israels, vor Gott etwas Besseres als die anderen Völker und daher von ihm auserwählt worden zu sein, ist in ihrem seelischen Kern nichts anderes als Neid und Eifersucht. Wer solche Entrüstung empfindet, weiß von Gott nur als Herrscher und betrachtet die Wirklichkeit als einen einzigen Herrschaftszusammenhang. Er kann sein Dasein, die Art, wie es gilt, nur als größeren oder kleineren Anteil an Macht und Herrschaft bestimmen. Ein Bild von ihm, das ihm ein Schwinden seines Anteils bedeutet, kann nur Angst in ihm erregen. Er fürchtet die Verkleinerung seines Wesens wie den Tod. Die Einsicht, daß Gott die Welt aus Liebe geschaffen und sein Volk Israel aus Liebe erwählt hat, schlägt in ihm keine Wurzeln. Denn er kann sich nicht vorstellen, daß die Liebe, mit der Gott sein Volk erwählt hat, auf ihn übergreifen möchte. Dabei hat die schöpferische Liebe eben dies an sich, daß sie sich durch Teilung, Mit-Teilung nicht verringert, sondern vermehrt. Denn sie ist nicht auf Homogeneität aus, sondern auf Vielfalt. Homogeneität ist das Ziel der Herrschaft. Je gleichförmiger die Wirklichkeit, um so leichter ist es — so scheint es dem in der Herrschaft Befangenen –, sie zu beherrschen, um so leichter ist das Gebiet der Herrschaft zu vergrößern. Aber die Liebe will gar nicht herrschen, sondern sie hofft, daß das Leben durch Begegnung mit jenen, die anders sind, angeregt und bereichert wird. Und die Eifersucht, die die Entrüstung über den angeblichen Hochmut des jüdischen Volkes eigentlich ist, wäre nicht Eifersucht, wenn sie nicht dies Wissen, wenn auch verborgen, in sich hätte. Doch das Liebesvermögen ist in ihr gebannt; denn sie meint ja, größere Liebe sei nur als größere Herrschaft möglich. Darum kann sie sich den Befreiungssinn des Bundes zwischen Gott und seinem Volk nicht aneignen.

Liebe Gemeinde, abschließend der Einwand, den vor allem wir Evangelischen nicht übergehen dürfen: Aber die Juden sind doch das Volk des Gesetzes, von dem wir, wie Paulus lehrte und wie Luther es bekräftigte, durch Christus befreit wurden! Von dem her, was wir heute bedacht haben, muß man dazu vor allem dies sagen: Dieser evangelische Gemeinplatz verkennt vor allem den geschichtlichen Zusammenhang, in den das ‚Gesetz‘ — richtiger: die heilige Weisung Gottes — gehört: die Spannung zwischen der Fremdherrschaft — der des Zweistromlandes, der ägyptischen, der des Alexanderreiches und darnach des römischen Reiches, gefolgt endlich von der Herrschaft der europäischen Gastländer — der Fremdherrschaft, sage ich, auf der einen Seite, der Aussicht auf ein Leben des jüdischen Volkes in Freiheit und Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Die Thora ist die Verfassung des jüdischen Volkes, und sie beruht nicht auf zeitlos-metaphysischen Grundlagen, sondern auf seinen geschichtlichen Erinnerungen. Nach allem, was ich weiß und verantworte, hat Jesus, durch die Aussicht auf das Reich Gottes inspiriert, die Thora in diesem Sinne erneuert. Das schönste und vollständigste Dokument dieser Erneuerung ist die Bergpredigt.

Wenn es sich aber so verhält, ist es verfehlt, den — rechtlich und moralisch — normativen Sinn der Thora von der Erinnerung an die Geschichte zu trennen, die sie begründet hat. Ich sagte ja am Anfang, es ist die Spannung zwischen dem Bund Gottes mit dem Volk und dessen Erfahrung von Herrschaft und Unterdrückung, der die Liebe Gottes zu ihm und seine Erwählung entsprang. Und dazu gehört die Aussicht, daß einst aus der Masse der bedrückenden Erinnerungen der Begriff der bereichernden Erfahrung, der zunehmenden Erkenntnis der Wirklichkeit entbunden werden wird — der Begriff und die Hoffnung darauf. Laßt uns diese Aussicht zur Brücke zwischen Kirche und Judentum nehmen, so wird ein friedliches und bereicherndes Zusammenleben beider möglich sein — ohne die Aussicht, daß eines das andere verschlingt. Und laßt uns diese Aussicht zum Motiv der Fürbitte für die Stadt Jerusalem nehmen: Der Herr verleihe ihr Frieden und mache sie zum Ort verläßlichen Zusammenlebens der drei Religionen, die sich auf den Bund zwischen Gott und Abraham berufen. Amen.

Pfr. i.R. Dr. Lorenz Wilkens


1Lat.: „Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern.“