Ansprache zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
27. Januar 2013 — 17. Schwat 5773
Kehrt zurück, ihr Hoffnungsgefesselten!
Sacharja 9,12a
Wir trauern heute 68 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz um die Opfer des Nationalsozialismus und um seine Folgen im Leben von Millionen Menschen weltweit.
Wir trauern heute um alle die in der Zeit des Nationalsozialismus gelitten haben und umgekommen sind, um ihre Güte und um ihre Weisheit, die die Welt hätten retten und so viele Wunden hätten heilen können.
Wir trauern um den Geist und den Humor, um das Lernen und das Lachen, das für immer verloren ist. (Vgl. Seder Ha-Tefilot: Das jüdische Gebetbuch 1997, Gütersloher Verlag 1997, Band 1, S. 188.)
Die Zeit des Nationalsozialismus gehört nicht allein den Historikern, die sich berufsmäßig damit beschäftigen. Sie gehört der Öffentlichkeit, den Zeitzeugen und ihren Nachkommen. Um sie wird gestritten, und eben dieser Streit sichert der NS-Zeit einen privilegierten Dauerplatz auf der Bühne des öffentlichen Interesses.
Die Geschichte nach 1945 unterteilt sich in zwei Perioden.
Zuerst kam die Zeit des Schweigens. „Zerstörung lähmt offenbar und macht stumm“, schreibt der ehemalige, israelische Parlamentspräsident Avraham Burg in seinem Buch „Hitler besiegen“. „Im Hebräischen haben die Worte für Blut und Schweigen „dam“ und „dmama“ den gleichen Klang. Die Lehre lautet: Je mehr Blut vergossen wird, umso weniger Worte fallen bis zum völligen Verstummen.“ (Burg, Avraham: Hitler besiegen. Campus Verlag 2009, S. 58-59.)
In der zweiten Periode sprachen die Menschen über die Schuld und das Leiden der Opfer.
Deutschland ist zu einem Vorbild geworden, wenn es um die Be- und Verarbeitung der Geschichte geht: ständige Bemühungen um Wiedergutmachung, Reparationen, die starke Unterstützung des Staates Israel und der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Aufklärung auf den Schulen, die Errichtung von Mahnmalen, Museen und Forschungseinrichtungen. Von ganzem Herzen wurde daran gearbeitet sicherzustellen, dass eine solche Katastrophe nie wieder passieren kann. Dafür bin ich sehr dankbar.
Diese notwendige Beschäftigung mit der Geschichte hat doch einige Nebenwirkungen gezeigt. Die Fokussierung von beiden Seiten auf die schrecklichste Periode unserer gemeinsamen Geschichte hat die Folge, dass die Menschen hauptsächlich in zwei Gruppen getrennt werden: die Opfer und die Täter. Juden werden leider viel zu oft entweder als traurige Opfer von früher oder als lästige Dauermahner von heute wahrgenommen.
Diese dauernde Beschäftigung mit der Vergangenheit blockiert unsere Kreativität, Lösungen für die heute relevanten Fragen zu finden. Sie fördert in uns Juden das Denkmuster, dass „alle gegen uns sind“.
Noch dazu erklären die Fachleute heutzutage, dass die traditionellen Methoden der Aufklärung über den Holocaust und das Judentum mangelhaft sind. Sie helfen wenig dabei, eine moderne, offene, Xenophobie-freie Gesellschaft zu gestalten. Schuldgefühle für die Taten der vergangenen Generationen führen nicht unbedingt zur Toleranz in der Gegenwart.
Meine Generation hat den Holocaust nicht miterlebt, auch meine Elterngeneration nicht. Aber die Schoah ist doch in uns. Und trotzdem darf die Schoah nicht zu unserer jüdischen Ersatzidentität werden.
Ich bin mit Dieter Graumann, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Avraham Burg, dem ehemaligen Präsidenten des israelischen Parlaments, und Peter Menasse, dem Wiener Journalisten. Sie alle plädieren für ein starkes, von der Opferrolle befreites, jüdisches Bewusstsein.
Genau jetzt ist die Zeit für eine neue Epoche. Juden leben in Deutschland seit fast 1700 Jahren. Noch niemals in dieser langen Zeit haben wir hier so frei und so sicher leben können wie heutzutage. Wir Juden müssen die Opferrolle ablegen. Ich bitte auch unsere nicht-jüdischen Freunde, uns dabei zu helfen.
Für meine Ansprache heute habe ich eine Stelle aus dem Propheten Sacharja als Motto ausgesucht.
„Kehrt zurück zur Festung, ihr Hoffnungsgefesselten!“ (Sacharja 9,12a). Sacharja redet über die Zukunft, über die messianische Zeit, über die Heimkehr der Juden. Der Prophet spricht über sein Volk als „assirei ha-tikwah“ — „Hoffnungsgefesselten“. Ich finde diese Bezeichnung besonderes schön und paradox. Wie kann man von Hoffnung gefesselt sein? Das Volk voller Hoffnung und noch viel mehr: diese Hoffnung, dieser unüberwindliche Optimismus hat uns als Schicksalsgemeinschaft geprägt und einen festen Platz in der Geschichte der Menschheit gesichert. Harvey Milk, Jude und der erste offen Homosexuelle, der in ein öffentliches Amt gewählt wurde, sagte in diesem Sinne: „Wichtig ist nicht, dass wir von Hoffnung allein leben können, sondern dass das Leben ohne Hoffnung nicht lebenswert ist“.
„Schuvu le Bitzaron“ — „kehrt zurück zur Festung“, sagt der Prophet, zurück zum festen, bodenständigen Leben, dem Leben hier und jetzt.
Ich bin der festen Meinung, das Judentum in Deutschland braucht eine frische Perspektive. Judentum bedeutet nicht immer Verfolgung und Kummer, sondern auch Wärme, Leidenschaft, Neugier, Lebenslust und den gemeinsamen Kampf an der Seite anderer Zivilisationen für eine bessere Welt; für eine Welt, in der die Gegenwart Gottes spürbar ist.
Wir kommen aus den unterschiedlichsten Traditionen, wir sind geprägt von gemeinsamen Glaubens- und Lebensweisheiten, aber auch von tragischen Missverständnissen; wir teilen große Hoffnungen. Jetzt ist es für uns an der Zeit, dass wir einander im Bewusstsein unserer Vergangenheit begegnen, mit ehrlichen Absichten, mit Mut und der Bereitschaft, einander zu vertrauen. (Vgl. Gebet für interreligiösen Begegnungen in Seder Ha-Tefilot: Das jüdische Gebetbuch. Gütersloher Verlag 1997, Band 1, S. 573.)
Ich wünsche mir, dass die christlich-jüdischen Begegnungen über die Themen der Vergebung und Versöhnung hinausgehen. Ich wünsche mir, dass wir unsere Kräfte gemeinsam auf die Lösung der wichtigen Fragen der Gegenwart und Zukunft konzentrieren:
- Was bedeutet für uns alle ethischer Konsum?
- Was tun wir gemeinsam für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft? Wie bekämpfen wir gemeinsam die Armut?
- Was machen wir gemeinsam gegen Diskriminierung?
Denn nur gemeinsam können wir Antworten auf die Fragen der Menschheit finden. Und das ist die best-mögliche Würdigung der Opfer der NS-Zeit.
Alexander Grodensky
Rabbinerstudent
Abraham Geiger-Kolleg,
Berlin-Potsdam