Christen und Juden

Die folgende Andacht zum Verhältnis von Christentum und Judentum hielt Pfarrer Cord Hasselblatt auf der Herbstsynode des Spandauer Kirchenkreises.

Liebe Synodale!

Fast am Ende des Jahres 2010 angekommen, ist es vielleicht passend, noch einmal die Jahreslosung zu bedenken:

Jesus Christus spricht: Euer Herz erschrecke nicht. 
Glaubt an Gott und glaubt an mich.
Johannes 14, 1

Ich möchte Sie in dieser Andacht dazu einladen, mit mir darüber nachzudenken, was es heißen kann, an Gott und an Jesus Christus zu glauben, angesichts des lebendigen Judentums auch im Staat Israel.
Wer ist Jesus Christus für uns heute, das ist Dietrich Bonhoeffer zufolge die entscheidende Frage für lebendiges glaubwürdiges Christsein.
Der jüdische Theologe Irving Greenberg hat geschrieben: „Angesichts des Holocaust „stirbt“ das klassische Christentum, um zu neuem Leben wiedergeboren zu werden, oder es lebt unbeeinflusst weiter, um vor Gott und den Menschen zu sterben.“

Wie glaubt man an Gott und an Jesus Christus, wenn man die Äußerung Greenbergs nicht als irrelevant abtut, sondern als eine inhaltliche Herausforderung begreift?

Liebe Synodale!
Wenn ich im vorletzten Rundbrief geschrieben habe, dass seit 1945 das christliche Bekenntnis auch in seinem Kern notwendigerweise im Fluss sei, und das exemplarisch im christlich-jüdischen Gespräch deutlich werde, hatte ich damit keine schlichte Relativierung des christlichen Glaubens im Sinn, wie es dem einen oder der anderen LeserIn erschienen sein mag.
Mit jenem Satz versuchte ich, dem eben angesprochenem Fragehorizont zu entsprechen.

Das klassische Christentum in den Jahrhunderten vor 1945 hat in seiner weit überwiegenden Mehrheit sich nicht nur gegen das Judentum definiert, sondern auch wesentlich dazu beigetragen, die jüdischen Gemeinden zu bedrängen, klein zu halten und ungezählte Male aus ihren Ansiedlungen zu vertreiben.

Diese historischen und theologiegeschichtlichen Gegebenheiten sind mir nicht egal. Vielleicht liegt es daran, dass ich in der 10. Hasselblatt-Generation ordiniert bin, jedenfalls schmerzt es mich, wenn ich judenfeindliche Äußerungen Martin Luthers lese oder darüber nachdenke, dass der Bischof Ambrosius von Mailand im 4. Jahrhundert den Kaiser Theodosius dafür tadelte, dass er für eine von Christen angezündete Synagoge vor Gericht Schadensersatz erreichen wollte. Diese Schadensersatzklage unterblieb dann auch.

Diese Sachverhalte sind für mich nicht nur belanglose Geschichtssplitter, die mit uns heute überhaupt nichts mehr zu tun hätten. Von Ambrosius stehen Lieder in unserem Gesangbuch und vor sechs Tagen haben wir den Reformationstag gefeiert.
In einem Brief an Kaiser Theodosius hatte Ambrosius geschrieben: „Soll denn der Ort des jüdischen Unglaubens aus der bei den Christen gemachten Beute bezahlt werden? Soll das dank Christi Wohlwollen gesammelte Geld in den Besitz der Üngläubigen gehen? Sollen nun die Juden an den Giebel ihrer Synagoge schreiben können: Tempel des Unglaubens, errichtet aus der bei den Christen gemachten Beute? Überhaupt, was soll der Wiederaufbau einer Synagoge: Ort des Unglaubens, Heimstätte der Gottlosigkeit, Schlupfwinkel des Wahnsinns, der von Gott selbst verdammt worden ist? Willst du den Juden solchen Triumph über die Kirche gewähren, solchen Sieg über das christliche Volk, diesen Ruhm der Synagoge über die Trauer der Kirche? … Mit den Ungläubigen müssen auch die Äußerungen des Unglaubens verschwinden.“
Während meines Studienurlaubes vor vier Jahren stöberte ich einige Stunden in einem Spandauer Gemeindearchiv und stieß auf einen interessanten Vorgang:
Im Dezember 1950 gab es eine Straßensammlung der Berlin-Brandenburger Kirche zum Wiederaufbau kriegszerstörter Kirchen. Gleichzeitig überreichte die Kirchenleitung durch Propst Grüber der Jüdischen Gemeinde einen Betrag von DM 5.000,- zum Wiederaufbau der Synagoge. Am 22(!).12.1950 schrieb ein geschäftsführender Pfarrer einen Protestbrief des Inhalts, dass es wohl nicht anginge, kirchliche Gelder für die Herstellung eines Gebäudes zu verwenden, in dem “Jesus als der Christus tatsächlich geleugnet” wird. Im Februar 1951 schrieb der gleiche Pfarrer seinem Superintendenten (Martin Albertz) auf die Frage, warum denn so wenig gesammelt worden sei, unter anderem, dass die Kirche ja offenbar genug Geld übrig habe, um sogar dem Missionsbefehl Christi zuwider es für eine Synagoge zu verwenden.
Ich finde die Kontinuität des klerikalen Arguments gegen den Wiederaufbau einer Synagoge über knapp 1.600 Jahre wirklich faszinierend.
Vor knapp tausend Jahren waren die Kreuzzüge mit ihren antijüdischen Exzessen. Wenn es stimmt, dass für Gott 1000 Jahre sind wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache (Psalm 90), dann sind die Kreuzzüge für Gott wie gerade gestern geschehen.
Mindestens wir Ordinierten, so empfinde ich, müssten ein Gespür für diese geschichtliche Weite haben.

Nach 1945, so habe ich in meinem Studium der Theologie mit wachsender Klarheit erkannt, haben sich neue und andere Beziehungen zwischen Christen und Juden entwickelt, Beziehungen, die immer mehr zu echten Begegnungen geworden sind und auch ich selber habe solche Begegnungen erfahren dürfen.
Nicht zuletzt am gestrigen Abend.

Sie haben die Seelisberger Thesen von 1947 mit der Einladung erhalten und wir werden uns heute mit ihrer bleibenden Aktualität und neuen Aufgaben gut 60 Jahre später befassen.

Das wie mir scheint Neue nach 1945 ist, dass jüdische Äußerungen nicht mehr a priori von Christen abgewertet oder negiert werden. Dahinter steht die epochale Wiederentdeckung der Tatsache, dass, wie der Apostel Paulus schreibt, der Bund Gottes mit Israel nicht gekündigt ist.

Wie kann angesichts alles dessen Glaube an Gott und an Jesus Christus aussehen?

Für mich ist die Tatsache von Jesu Jüdischkeit fundamental. Jesu Judesein ist nicht nur eine historische Zufälligkeit, sondern der Ausdruck von fortwährender Kontinuität in Gottes erwählendem Handeln. Deswegen ist der christlich-jüdische Dialog etwas ganz anderes als andere interreligiöse Gespräche.

Durch Jesus Christus, so verstehe ich Paulus, ist das Wirken des Gottes Israels auch zu den Nichtjuden gelangt, in seinem, Christi, Namen kann der Gott Israels auch von Menschen aus der Völkerwelt vollgültig angerufen werden.

Der Glaube an Gott wird ein Umkehr-Glaube sein. Ein Glauben, der die fortwährende Umkehr als bitter notwendig und als erstaunlicherweise möglich erkennt. Ein Glauben, der sich um Offenheit bemüht, ein Glaube, der Begegnungen voller Geistesgegenwart anstrebt.

Jesus Christus ist dann nicht mehr der, der mich vom Judentum trennt, sondern vielmehr der, der mich immer wieder in Richtung des Judentums zieht. Was bedeutet im Blick auf Jesu Jüdischkeit der Vers aus dem Hebräerbrief: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit?“

Eine Möglichkeit erneuerten christlichen Glaubens ist, sich unsere geistliche Nachbarschaft zum Judentum zu vergegenwärtigen. Darunter verstehe ich zum Beispiel, sich klar zu machen, dass heute, Samstag morgen, Sabbat ist und dass demnächst in den Sabbatgottesdiensten die Thora-Rollen aus ihrem Schrein genommen, der Gemeinde mit einer Prozession gezeigt und zum Verlesen auf das Lesepodest, die Bima gelegt werden. Dann werden die Leser nach vorne gerufen.

Heute ist der Sabbat Toledot (d.h. Geschlechterfolgen). In der heutigen Tora-Lesung ist unter anderem von der Geburt Jakobs und Esaus die Rede, die sich schon im Mutterleibe Rebekkas befehdeten. Jakob hielt die Ferse Esaus. In der jüdischen Tradition sind die Personen Jakob und Esau und ihr Verhältnis oft mit dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Beziehung gesetzt worden. Jakob wird nach seinem Kampf am Fluss Jabbok Israel genannt.

Israel, der mit Gott und mit Menschen kämpft. Was bedeutet das für den interreligiösen Dialog? Dazu wird am 30. November Rabbiner Tuvia ben Chorin in der Gemeinde Siemensstadt einen Vortrag halten.

Christlicher Glaube, der es lernt, jüdische Realitäten zu begreifen, gewinnt neue Offenheit und verliert christozentrische Selbstbezogenheit. Jesus Christus wird zum Wegweiser zum Gott Israels, der sich sein Volk erwählt hat und durch seinen Sohn die Völkerwelt dazu ruft.

Liebe Kreissynodale!

„Jesus Christus spricht: Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich.“

Wenn man die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen studiert, gibt es viel Anlass zu erschrecken. Für mich ist das Verstörendste daran, dass sich die christlichen Anti-Judaisten nicht vornahmen, Böses zu tun, sondern im Gegenteil, wie sie meinten, dem Namen Christi Ehre zu erweisen. Die Verkündigung des Namens Christi hatte als Kollateralschaden unendliches jüdisches Leid.

Dieser Irrglaube wird seit 1945 immer klarer erkannt. Ein neues dialogisches Verständnis ist auch in die Grundordnung unserer Landeskirche gelangt.

Und so kann ich auch den Anfang der Jahreslosung vielleicht neu hören: Euer Herz erschrecke nicht. Vertraut auf die Wirksamkeit Gottes und seines Sohnes, die auch jenseits der Irrtümer und Fehler von Theologie und Kirche tätig sind, um neues Leben für Israel und die Völkerwelt zu erreichen.

AMEN!

Pfarrer Cord Hasselblatt