Weißrußland im Mai — Ein Reisebericht

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hat in diesem Jahr 2 Studienreisen durchgeführt:
Vom 18. bis 25. April 2009 nach St. Petersburg und
vom 15. bis 24. Mai 2009 nach Weißrussland, Minsk/Gomel.

Kurzbericht über die Studienreise Weißrussland vom 15. bis 24. Mai 2009

Schwerpunkt der Reise waren die aktuellen Auswirkungen der Tschernobylkatastrophe von 1986.
Auf dem Bahnhof werden wir von einer Dozentin der Staatlichen Philologischen Universität und ihren Studentinnen empfangen. Die Dozentin empfiehlt ihren Studentinnen mit Erfolg die Teilnahme an Sühnezeichen Sommerlagern.
Wir werden in die Mensa des Studentenheimes eingeladen und ein erstes Kennen lernen beginnt beim gemeinsamen Essen.
Am Nachmittag ist Freizeit zum ersten Erkunden der Stadt Minsk.
Am Sonntag besuchen wir einen Lutherischen Gottesdienst der Gemeinde „New Life“. Die Kirche, eine fabrikähnliche Halle, liegt etwas außerhalb von Minsk und hat ca. 1000 Plätze. Es finden dort sonntags zwei Gottesdienste statt. Der Gottesdienst ist gut besucht, er hat eine fundamentalistisch missionarische Form und eine sehr laute Band.
Es folgt eine Stadtrundfahrt einschl. Besuch des Jüd. Gedenksteines (Ghettoopfer), Kurapaty (Stalinopfer) und ein Kurzbesuch des Vernichtungslagers Trostenetz.
Am Montag empfängt uns der stellvertretende Deutsche Botschafter Fried Nielsen zu einem offenen ca. einstündigen Gespräch..
Danach besuchen wir Belrad, das Radiologische Institut von Minsk. Es wurde 1990 gegründet, ist staatl. genehmigt, existiert aber ausschließlich von einer „Außenfinanzierung“.
Den Hauptvortrag hält der Physiker Prof. Georg F. Lepin. Er hat sechs Jahre lang nach der Katastrophe in Tschernobyl gearbeitet und vielen Menschen dort das Leben gerettet. Er spricht Klartext.
„Die friedliche Nutzung der Atomkraft“ ist ein kleiner Deutscher Witz, besser, „Die Atomkraft ist ein friedlicher Mörder“. Nach seiner Meinung ist die Kernenergie der größte Feind der Menschheit.
Auf die Frage, wie die stark verstrahlten Gebiete dekontaminiert werden können, antwortet er: „10 Halbwertszeiten von Cäsium 137 abwarten“ (Halbwertszeit von Cäsium 137, 30 Jahre), d.h. nach 300 Jahren können die Gebiete wieder genutzt werden.
Es leben noch ca. 2 Millionen Menschen, davon ½ Million Kinder in den verstrahlten Gebieten Weißrusslands.
Das Institut Belrad hat einen Personenmessstuhl entwickelt, mit dem die radioaktive Belastung von Personen gemessen werden kann. Des weiteren mit Deutschen zusammen Vitapekt (ein Pektinprodukt) entwickelt. Pektin bewirkt das schnellere Ausscheiden der Cäsiumnuklide, bevor sie sich über das Blut in Organen und Muskeln festsetzen.
Mit Kleinbussen in denen die Personenmessstühle installiert wurden, fahren Mitarbeiter von Belrad in Kooperation mit den Schulen vor Ort in die verstrahlten Gebiete. Dort werden die Kinder, die Nahrung und der Boden gemessen. Eltern und Kinder werden beraten und ggf. Pektinkuren empfohlen. Alle Daten werden dokumentiert. Einige der vielen Ordner wurden uns vorgelegt.
Am Abend folgte im Jüdischen Museum in Minsk ein Gespräch mit Michael Treyster. Er war jüdischer Partisan in der Gruppe Sorin. Seit 1998 ist er Vorsitzender von der „Weißrussischen Vereinigung der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlingen“, seit 1990 Vizepräsident der „Internationalen Vereinigung der Juden-Opfer des Faschismus“.
Er berichtete lebensnah über die Flucht aus dem Minsker Ghetto und das Überleben der 800 Menschen in den Wäldern der Invenezkaja Zone.
Am Dienstag fahren wir nach Nowinki in das Behindertenheim, in dem 3 Sühnezeichen-Freiwillige arbeiten.
Hier werden die Folgen der Tschernobylkatastrophe handgreiflich, denn es ist unstrittig, dass nach der Katastrophe die Zahl der Kinder mit Behinderungen zugenommen hat.
Die Freiwilligen berichten offen über die unterschiedlichen Auffassungen im Umgang mit den Kindern zwischen Ihnen und dem Pflegepersonal, aber auch von ihren Erfolgen. Einmütig kommt die Aussage, die Arbeit ist sehr wichtig und muss unbedingt weiter geführt werden.
Wir sind tief beeindruckt von ihrem ernsthaften Engagement und ihrem Durchhalten. Eine Freiwillige hat ihren Dienst um ½ Jahr verlängert.
Am Nachmittag zum Schriftstellergespräch kommt auch Irina Michailowna Bykowa, die Witwe des großen Weißrussischen Schriftstellers Wassil Bykow. In einem Grußwort dankt sie den Deutschen für die Aufnahme in der Zeit ihrer Emigration und auch für die Arbeit der Aktion Sühnezeichen.
Der Schriftsteller berichtet über die aktuellen Presserestriktionen. Auch äußert er sich kritisch über die Kooperation der Deutsche Wirtschaft mit Weißrussland, sie verlängert das derzeitige Regime.
Am Abend endet unser Minskaufenthalt im Restaurant der neuen Zentralbibliothek mit einem guten Essen und intensiven Gesprächen mit den Sühnezeichenfreiwilligen. Wir sind dankbar, dass sie uns teilhaben lassen an ihrem Erleben.
Am Mittwoch fahren wir mit der Bahn nach Gomel, es ist die zweitgrößte Stadt in Weißrussland, mit vielen Industriebetrieben. Eine lebendige Stadt mit vielen Grünanlagen. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Vor dem zweiten Weltkrieg lebten dort mehr als 60% Juden und es gab 46 Synagogen, zur Zeit keine mehr, das erfahren wir in der kleinen jüdischen Gemeinde, die in einem alten Haus einige Büros und eine neu eingerichtete Betstube hat.
Wir besuchen auch Vetka, das Museum der Altgläubigen Orthodoxen Christen. Dort sahen wir u.a. Ikonen mit unglaublicher Ausstrahlung.
Danach fahren wir in ein geräumtes ehemaliges Dorf in der stark verstrahlten Zone, sehen die Grundmauern der ehemaligen Häuser, Wände eines Stallgebäudes, überwucherte Gärten, alles still und friedlich. Wunderschöne Landschaft; Felder, Wälder – für 300 Jahre verloren! Keiner von uns wird diesen Tag vergessen.
Zum Abschied sind wir von den Eltern unserer Dolmetscherin eingeladen, wir sind die ersten Deutschen, die sie zu sich eingeladen haben. Wir genießen die weißrussischen Spezialitäten in herzlicher Atmosphäre, kommt wieder! sagen sie uns zum Abschied.

Werner Falk