Predigt 14.6.2009: Lk. 16, 19-31 (Koesling)

Liebe Gemeinde,

wahrscheinlich gibt es nicht mehr allzu viele Fernsehzuschauer, die sich auch jetzt noch Jahr für Jahr den europäischen Schlager-Grand Prix antun: Die Jahrzehnte der großen Interpreten wie auch der eingängigen und erfolgreichen Lieder sind Geschichte, und das Spektakel ausgefallener Kostüme – „ausgefallen“ so oder so… – steht im Vordergrund. Na ja, und spätestens, wenn es darum geht, sich gegenseitig Punkte zuzuschachern, hat man in den letzten Jahren Südost- und Osteuropa unter sich gewähnt …

In diesem Jahr nun war endlich mal wieder alles etwas anders: Der Siegertitel kam aus Norwegen, der Interpret Alexander Rybak ursprünglich aus Weißrussland. Sein Lebenslauf liest sich wie ein Märchen: Geboren wurde er 1986 in den Tagen von Tschernobyl; seine Eltern — eine Pianistin und ein Violinist — wanderten mit dem Vierjährigen nach Norwegen aus. Dort brachte er es nicht nur zum Leiter eines Jugendorchesters, sondern wurde Geiger, Sänger, Komponist, Schauspieler. Eine Karriere wie im Märchen!

Märchen — Fairytale — hieß auch sein Siegertitel. Interessant, dass „tale“ schon für sich Erzählung, Geschichte, auch Märchen heißt. Im FAIRYTALE nun geht es vor allem um Feen und um Zauberei. Wenn man sich aber im Englisch-Wörterbuch die eigentliche Bedeutung des Adverbs FAIRY anguckt, kann man vielleicht verstehen, warum Märchen ausgerechnet bei Kindern trotz manch blutrünstiger Einzelheiten und trotz aller pädagogischer Bedenken nach wie vor hoch im Kurs stehen: „Fairy“ heißt nämlich gerecht, ehrlich, anständig. Na, und wo geht es denn noch „gerecht, ehrlich, anständig“ zu? Im Leben? Oder im Märchen?

Das alles war aber schon vor knapp 2 000 Jahren nicht anders, als Lukas unseren heutigen Predigttext verfasste. Um den Pharisäern einige Dinge des Glaubens zu erklären, lässt er Jesus ein altes ägyptisches Märchen erzählen. Kein Wunder, dass dieses auch mit „Es war einmal“ anfängt! In ihm verwendet Jesus eine sehr bildreiche Darstellung der Unterwelt. Doch für Menschen, die solche Bilder noch geglaubt haben, war die Erde auch noch eine Scheibe! Das, was Jesus und Lukas uns erzählen, hat indes einen tieferen Sinn, als uns Angst einzujagen vor einem Hades altgriechischen Stils. Achten wir also mehr auf die Personen.

Da wäre erst einmal der reiche Mann. Was heißt „der“? Anders als in den Gazetten heutzutage, wo es gesellschaftlich dazu gehört, die High Society, die hundert reichsten Leute der Welt mit Namen zu kennen und zu nennen, wird im Predigttext sein Name überhaupt nicht erwähnt, wir wollen uns doch nicht bei Nebensächlichkeiten aufhalten! Er lebt wie ein König, in Saus und Braus und in Freuden. Und oberflächlich: Wichtig ist, was sich alles auf der Oberfläche der Tische ansammelt an Prunk und Schmuck und an Delikatessen, dass sich fast die Tischplatte biegt. Wie schön für ihn! Noch…

Na, und dann wäre da noch der andere, der von all dem ausgeschlossen ist. Der sich unterhalb der Tischoberfläche aufhält, unter dem Niveau des Reichen. Ein Armer. Ein Kranker. Einer, dessen Namen man nicht kennt und dementsprechend auch nicht nennt. Ganz ausgeschlossen, dass der wichtig sein soll! Kennen Sie vielleicht die Armen und Kranken dieser Welt mit Namen?

Jesus — kennt ihn. Lukas — nennt ihn. Und Gott hilft. So lautet der Name Lazarus auf Deutsch. Dieser Lazarus hätte sich ja schon mit den Abfällen vom Tisch des Reichen zufriedengegeben. Dazu hätten nach den Sitten jener Zeit schon Brotreste gehört, mit denen sich die Reichen Mund und Hände abwischten.

Wie bereits oben erwähnt: ein Märchen! Aber ging es bisher „gerecht, ehrlich, anständig“ zu? Hören wir weiter, denn nun kommt das Aus. Für beide. Sie sterben.

Doch jetzt kommt die Kehrtwende: Der Reiche erleidet Höllenqualen, während sich Lazarus nicht nur wie in Abrahams Schoß fühlt. Aber der Reiche hat immer noch nicht dazugelernt: Wie in besseren Tagen klingelt er sozusagen nach seinen Untergebenen: Lazarus möge zu Hilfe kommen … Ach nee: Auf einmal kennt er sogar den Namen dessen, den er sein ganzes Leben lang nicht wahrgenommen hat! Und der gute Abraham sagt: „nee, mein Lieber!“ Sogar „Mein Kind!“ spricht er ihn an. Wie man halt seinen Kindern erst den Lauf der Welt erklären muss.

Einzelheiten, die im weiteren Verlauf spezifisch märchenhaft sind und auf die geographische Herkunft der Geschichte zurückzuführen, erörtere ich jetzt — wie erwähnt — nicht. Dafür gehen wir gleich einen Schritt weiter im Lernprozess des reichen Mannes. Denn der findet tatsächlich statt. Erstmals denkt er auch mal an andere, an seine fünf Brüder. Die müssen doch gewarnt werden, damit ihnen nicht das gleiche Schicksal blüht! Aber wieder sieht er in Lazarus bloß den Laufburschen. Abraham kennt jedoch kein Erbarmen und ist nicht zu überreden: „Wozu Lazarus? Wie zu leben und wie nicht, das steht alles im Gesetz — in den Geboten –, außerdem haben sich die Propheten ausführlich geäußert!“ Nun kommt der reiche Mann mit seinem letzten und — wie er meint — stärksten Argument. Lazarus, wieder Lazarus soll’s richten. Aber diesmal nicht als Nachrichtenübermittler, sondern als die Nachricht selbst: „Seht, ich war tot, und ich bin zurückgekehrt, euch zur Umkehr zu bewegen!“

Zu überzeugen ist Abraham aber auch dadurch nicht, und ich gebe seine Antwort so wider, wie auch wir sie für uns begreifen können: „Wer nicht verstehen will, was in der Bibel steht, wird sich auch nicht vom Auferstandenen bekehren lassen!“

Wer den heutigen Predigttext in diesen Tagen hört, meint zuerst, kein anderer könnte so gut zu unserer momentanen gesellschaftlichen Lage passen wie der. Wir müssen nicht mehr — wie noch vor 20, 30 Jahren — in die weite Welt blicken: nach Südamerika, wo bis heute wenige Großgrundbesitzer alles haben und weite Teile der Bevölkerung nichts. Oder nach Afrika, wo sich eine korrupte politische Elite bis heute bereichert ohne Rücksicht auf ihr verhungerndes Volk. Oder auch nach Russland, wo wenige Neureiche von einer wirtschaftlichen Entwicklung derart profitieren, dass sie im Ausland mit Geld nur so um sich werfen, während andere immer häufiger und länger auf ihren Lohn warten und alte Leute von einer so niedrigen Rente leben, dass es hinten und vorn nicht reicht. Es genügt, dass „Finanzkrise“ und „notleidende Banken“ zu Wort und Unwort des Jahres 2008 gewählt sind. Es genügt, Namen zu wissen von zig unfähigen Managern und Firmenbossen! Sie jetzt auch noch mit ihrem Namen zu nennen, das wäre zu viel der Ehre! Es reicht aus, sich einzuschießen auf die ja tatsächlich vorhandenen schwarzen Schafe!

Natürlich gibt es Manager, die für eine Verantwortung, die sie dann doch nicht überneh- men, Millionen eingestrichen haben und nach Totalversagen auch noch mit goldenem Handschlag und einer Abfindung verabschiedet werden. Und natürlich liegt der Vergleich mit unserem Predigttext nahe, wenn wir daran denken, dass diese Reichen weder den Tausenden von Arbeitslosen, die ihnen den Verlust ihres Jobs „verdanken“, etwas von ihren Millionen abgeben, noch versuchen, im ganzen System, das sie schamlos ausgenutzt haben, etwas wieder gut zu machen. Und dann gibt es ja noch den gewaltigen Unterschied zwischen heute und der biblischen Zeit: Die Reichen von damals verfügten über keine Jahresgehälter von zehn Millionen und mehr! Wäre es also heute nicht noch einfacher, als Reicher gegenüber den Armen mit dem vielen Geld für ein wenig Linderung zu sorgen?

Aber genügt denn das wirklich? Reicht das tatsächlich? Die momentane Lage der Gesellschaft stellt auch eine Gefahr zu einem eingeengten Verständnis des Predigttextes dar. Wir übersehen leicht die Balken vor unseren eigenen Augen! Wie steht das denn damit?

Stocken wir unsere Spenden — aus wahrscheinlich kleineren Guthaben, Renten und Löhnen — auf, die sich in vergangenen Jahren doch wohl auch erhöht haben? Und worin sind wir sonst noch reich? Die Kraft der Jugend — wo kommt sie freudvoll dem Alter zugute? Die Erfahrung und Weisheit des Alters – wo werden sie behutsam eingesetzt, dass die Jugend sie annehmen kann? Wo nehmen wir den Schatz der eigenen Gesundheit dankbar und nicht als selbstverständlich hin, so dass wir unseren Nächsten nicht mit Ansprüchen überfordern, bloß weil wir selbst ihnen genügen können? Auch gegenseitiges Vertrauen stellt überall — dann nicht erst recht in Kirchengemeinden? – einen Schatz dar, den wir nicht nur selbst in Anspruch nehmen wollen, aber dann nicht den Brüdern und Schwestern verweigern dürfen!

Die Gesetze und Gebote, die Aussagen der Propheten — auch wir kennen sie! Haben wir sie verstanden? Dazu wissen wir durch Jesus Christus, den Auferstandenen, von der Liebe Gottes und der Vergebung unserer Schuld. Haben wir uns denn bekehren lassen? Wollen wir bis kurz vor unserem Tod warten wie der Verbrecher neben Jesus am Kreuz, damit wir die Bedeutung des Messias für unser Tun und Lassen dankbar annehmen? Gott ist die Liebe, und er will, dass ich den Nächsten liebe so wie mich.

Amen.

Diakon Michael Koesling