12.10.2008: 1. Kor 12,12-14 — Baumann

21. Sonntag nach Trinitatis 2008,
Predigttext: 1. Kor 12,12-14.26.27 (VI. Reihe)

Gnade sei mit euch
und Frieden von GOtt, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.

Liebe Gemeinde!

Wo Menschen zusammenleben, bleiben Spannungen nicht aus. Manchmal kommt es dabei sogar zur Zerreißprobe: Gelingt es, weiter zusammenzuwirken, oder steht eine Trennung, eine Spaltung an?

Zerreißproben entstehen überall dort, wo den einzelnen der Wert des Ganzen fragwürdig wird. Das kann in der Zweierbeziehung, in der Politik, in der Kirche der Fall sein. Eine Partnerschaft kann genauso vor einer Zerreißprobe stehen wie eine Koalition. Eine Freundschaft genauso wie eine Gemeinde. Ja, womöglich steht sogar die Zukunft der Menschheit auf unserer Erde vor einer Zerreißprobe. Ob es nämlich gemeinsam gelingen kann, genügend für den Klimaschutz zu tun oder ob die Einzelinteressen die Menschheit weiter in die Katastrophe treiben, das ist für die Zukunft auf unserem Planeten eine ganz entscheidende Zerreißprobe.

Nun ist der Riß, die Entzweiung zwischen Einzel- und Gesamtinteresse wohl nicht immer zu vermeiden. Die Geschichte –- auch die unserer evangelischen Kirche -– zeigt, daß es manchmal durchaus richtig ist, den Riß in Kauf zu nehmen, wenn es um eine Weiterentwicklung geht.

Immer aber besteht dabei das Risiko, daß das Ganze Schaden leidet. Von dieser Sorge ist auch Paulus getrieben, wenn es um die Einheit und Vielfalt der Gemeinde geht.
Sicherlich, es gab viel Euphorie in der ersten Gemeinde in Korinth. Und diese weltoffene Hafenstadt brachte natürlich auch all die Probleme und Verlockungen einer großen Stadt mit sich. Da war die kleine Gemeinde der Christinnen und Christen fast so etwas wie eine Insel, auf der verschiedene Menschen zusammenkamen. Reiche und Arme, Reedereibetreiber und Schreibsklaven, Kaufhausbetreiber und Haussklaven, Juden und Griechen waren da miteinander vereint. Doch die Jüdinnen und Juden blieben Juden, auch wenn sie Jesus als Ihren Messias angenommen hatten; und die Sklaven blieben trotz aller Lehre Jesu weiterhin Sklaven. Und wenn sich die Gemeinde zum Abendessen und Abendmahl traf, dann hatten die Wohlhabenden, die nicht arbeiten mußten und früher zur Versammlung kamen, den Tisch bereits leergegessen, wenn die Sklaven kamen.
Deshalb haben wir vorhin in der Epistellesung gehört, wie der Apostel versucht, die Gemeinde vom organischen Zusammenspiel zwischen Einheit und Vielfalt zu überzeugen. Ich lese noch einmal einige Verse aus dem 12. Kapitel des ersten Briefes an die Gemeinde in Korinth:

Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus.
Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leibe getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle zu einem Geist getränkt.
Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele.
Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.
Ihr seid aber der Leib Christi und einzeln genommen dessen Glieder.

Der Herr segne an uns sein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde!

So schreibt Paulus – doch seine Gemeinde in Korinth, die ihm so sehr am Herzen lag, machte offenbar ganz und gar nicht diesen Eindruck. Ihre Einheit war schwer gefährdet. Deshalb hält er all diesen zusammengewürfelten vor, wer sie in Wahrheit sind: aus einem und demselben Geist untrennbare Glieder des einen Leibes Christi.
Mit dem Gedanken des Leibes setzt Paulus die Gemeinde und Christus gleich. Für ihn ist das nicht bloße Vision oder Utopie. Für ihn ist das auch kein Bild oder Metapher, sondern Realität. Diese Realität begründet sich im gekreuzigten Jesus. Dessen Körper war der stärksten »Zerreißprobe« ausgesetzt. Manch mittelalterliche Kreuzesdarstellung führt uns das mit ihrem drastischen Realismus vor Augen. Wie der Leib mit seiner ganzen Schwere nach unten gezogen wird. Aber er ist letztlich nicht zerstört worden.
An der österlichen Geburt des neuen »Leibes Christi« haben wir durch die Taufe Anteil. Deswegen ist die Vorstellung vom umfassenden »Leib Christi« nicht Einbildung, sondern Gabe. Der Auferstandene gibt den Geist und schafft somit die Einheit als Leib Christi. Die Taufe hebt die ethnischen Unterschiede, die Spaltung der einen Menschheit in Juden und Griechen auf. Sie hebt aber auch die soziale Ungleichheit zwischen Sklaven und Freien -– und ich ergänze mit dem selben Gedankengang aus dem Galaterbrief -– sowie zwischen männlich und weiblich auf. Für Paulus ist die Aufhebung dieser Unterschiede von fundamentaler Bedeutung und wird von ihm vorausgesetzt. Die Grenzen sind aufgehoben. Nun gibt es den einen Leib nur im Miteinander seiner Glieder. Das Verhältnis zueinander ist bestimmt durch Solidarität und Sympathie.
Das müssen wir uns mal auf der Zunge zergehen lassen! Stellen Sie sich mal vor, was es bedeutete, wenn wir uns so als Leib Christi verstehen wollten, so radikal und konkret. Wie anders dann unser Leben aussähe. Niemand wäre da Laie oder Laiin. Denn wir wüßten ja: Der eine Geist ist in uns allen wirksam, in jeder und jedem auf besondere Weise. Wir könnten streiten, ohne uns zu verfeinden. Wir würden einander auch unsere Zweifel bekennen, unseren Widerspruch, unseren Unglauben, ohne einander loszulassen. Wir hätten ein Ohr füreinander. Wir hätten Zeit. -– All das, was längst aus der Kirche und dem christlichen Leben ausgewandert ist, hätte hier seinen Raum: sich mitteilen, zuhören, beichten, bekennen, Freude und Trauer teilen, um Rat fragen und Rat geben, einander verstehen, annehmen, helfen. Das alles suchen ja Menschen durchaus. Heutzutage nur meist anderswo, kaum in der christlichen Gemeinschaft. Die Wartezimmer der Therapeuten sind voll. Selbsterfahrungsgruppen, Selbsthilfeorganisationen, Selbstfindungsfreizeiten finden noch immer Zulauf. Warum hat das fast nichts mehr mit dem einen Leib zu tun, in den wir gemeinsam hineingetauft sind?
Denn an dieser Aussage des Apostels hat sich manches Denken über die Gemeinschaft der Menschen zu messen. Es macht deutlich, daß die Privatheit eine Grundsünde der Christenheit ist. Nicht zuletzt Ex-Kanzler Schröder behauptete noch, daß Glaube Privatsache sei.
Da erzählt eine Angestellte: „Ich lade nie Kollegen zu mir nach Hause ein. Meine Arbeit habe ich vergessen, wenn ich nach Hause komme. Wenn die aus dem Büro mich zu Hause sähen, könnte das Nachteile für mich haben. Das geht die nichts an. Und zu Hause, da erzähle ich nichts von meiner Arbeit. Höchstens mal, wenn mein Mann lange danach fragt, was er aber zum Glück fast nie macht.“
Und jemand, dessen Frau gerade an Krebs gestorben ist und der mit seinen beiden Kindern zurückgeblieben ist, erzählt: „Wenn ich nicht weiterweiß, nehm ich eine Valium. Wie es mir geht, wie ich zurechtkomme, das geht niemanden was an. Meinen Kindern habe ich gesagt, sie brauchten die Musik nicht leiser zu machen. Sie haben auch gleich nach der Beerdigung eine Party mit Freunden gefeiert, die schon längst geplant war. Die Kinder sollen nicht darunter leiden, daß meine Frau tot ist. Wie wir trauern, das geht andere nichts an.“
Beiden ist gemeinsam, daß sie einzelne Gebiete ihres Lebens verschweigen. Die eine zerteilt Arbeit und Familie, der andere spielt vor der Öffentlichkeit eine fatale Rolle. Seine Frau ist tot, und er tut so, als wäre nichts geschehen. Seine Trauer ist ihm Privatsache. – Sich verschweigen, sich verbergen, niemand in sich hineinsehen lassen, das ist eine Lebenshaltung geworden, die nur scheinbar im Widerspruch steht zu den vielen Fernsehshows, in denen Menschen ihre innersten Probleme vor allen geradezu auf den Präsentierteller legen. Offenbar fällt es heute vielen schwer, den angemessenen Rahmen dafür zu finden.
Auch das Verhältnis zur Schöpfung wird privatisiert. Die Schäden werden an die Allgemeinheit abgegeben, der Gewinn ist privat. Wir müssen nicht Experten sein, um das zu erkennen. Doch diejenigen, die das Zusammenspiel des Großen-Ganzen in ihr Leben zu bringen versuchen, werden derweil belächelt oder zu Heiligen stilisiert. Wie der Hl. Franziskus, der zu Tieren und Pflanzen sprach –- mit dem großen Wissen, daß Leben nicht zu zertrennen ist.
Und im Grunde wissen wir’s ja auch: Abgrenzung ist selten hilfreich. Der Mann, der den Tod seiner Frau vor sich und anderen verschweigt, privatisiert sein Problem. Doch gerade in dieser Situation böte es sich an, auf Vorhandenes zurückzugreifen. Und dieses Vorhandene ergibt sich in der Zuwendung der anderen, ist vertreten in vertrauten Worten, die überliefert sind, und die uns Halt und Stärke geben können, wenn sie uns zugesprochen werden. Wenn ich nicht mehr kann, orientiere ich mich an ihnen.
Paulus versucht der Privatheit durch eine positive Aussage zu begegnen. Da ist der Leib und die vielen Glieder, wo jedes Glied wichtig ist. Wir alle haben unsere Aufgabe auf Zeit, eine Aufgabe für das Ganze. Und wichtig ist auch, daß es keine Herrschaftsverhältnisse im Leib gibt. Sie kennen vielleicht die kleine Fabel, in der die verschiedenen Glieder stritten, wer der wichtigste sei. „Ich bins“, sagte der Kopf. „Nein, ich“, der Magen. „Nein, ich bin am wichtigsten“, sagte das Herz. Und während sie so stritten, da stellte der Darm seinen Dienst ein und alle krümmten sich vor Schmerzen. Selbst der Allerverachteste, hat seine unerläßliche Funktion für das Ganze.
Dennoch ist es unbestritten, daß einige Körperteile mehr geachtet werden. So werden auch einige Glieder in der Kirche höher eingeschätzt als andere. Das führte und führt zu unguten Entwicklungen. Schnell schreiben sich oben und unten fest. Der Kopf heimst alle Ehre ein, während diejenigen, die putzen und Kaffee kochen, nicht im Rampenlicht stehen. Auch in der Kirche haben die einen Macht, und viele andere schaffen hinter den Kulissen die Arbeit. Paulus schreibt aber -– wir haben es in der Epistellesung gehört -–, daß GOtt dem schlechter angesehenen Glied am Leib Christi mehr Ehre gegeben hat. So setzt Paulus zwar Unterschiede in den Gaben und Fähigkeiten voraus, verlangt aber einen Ausgleich an Ehre für die weniger angesehenen. Paulus kann hier also gerade nicht als Begründung dafür herangezogen werden, warum die einen in der Kirche dienen, während die anderen die Entscheidungen treffen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wieweit das – gerade in Zeiten knapper werdender Finanzen –- so gern propagierte Ehrenamt wirklich mit Ehre verbunden ist. Oftmals ist es zudem noch immer so, daß in den Kirchengemeinden die Ehrenämter vermeindlich geschlechtsspezifisch besetzt sind. Frauen putzen, backen, basteln, dekorieren, verkaufen, Männer stellen Haushaltspläne auf, übernehmen Vorsitze und entscheiden in Bauangelegenheiten. Achten wir darauf, daß allen die gleiche Ehre zuteil wird? Ich möchte mal vermuten, wenn Frauen genauso selbstverständlich den Finanzausschuß leiten, wie Männer während des Nachmittags der Seniorinnen bei Tisch bedienen, zuhören und hinterher den Abwasch erledigen, dann erst wird es nicht mehr nötig sein, über die unterschiedliche Wertschätzung der einzelnen Glieder nachzudenken.
Dann wird Kirche völlig als Leib Christi erfahrbar sein, dann wird das füreinander Sorgen, Mitfreuen und Mitleiden volle Wirklichkeit sein. Und das ist mehr als bloßes Mitfühlen. Dafür gibt es sicherlich schöne Beispiele. Ich sehe einen Obdachlosen auf der Straße, sehe Schreckensbilder im Fernsehen. Ich fühle mit. Aber es hat auch immer mit Distanz zu tun. Mitleid hält dagegen die Ohnmacht gemeinsam mit anderen aus. Das wird eher selten die Gabe der freien Rede sein, sondern eher die Umarmung, der Blick, der zum Reden ermuntert, die Tasse Tee, die zum Bleiben einläd. Auch das sind Gaben, die wir in der Gemeinde dringend brauchen.
Ebenso ist aber auch sicher: Wenn wir noch mehr tun und einzelne ihre Aufgaben noch besser erfüllen, werden wir doch nicht perfekt sein -– genauso wie die Gemeinde in Korinth zur Zeit des Paulus. Gerade diese Gemeinde, untereinander zerstritten, oft im Widerspruch zu Paulus, wird in unserem Briefabschnitt als Leib Christi beschrieben. Und der Leib Christi entsteht nicht erst durch hervorragende Menschen oder eine gut geplante Organisation. Er ist bereits da durch GOttes Geist. Der ruft uns in den Leib Christi hinein – dieses Dazukommen als neues Glied feiern wir in jeder Taufe. Und GOttes Geist stärkt uns, solange wir unterwegs sind.
Nun reicht es freilich nicht, die Probleme der Welt anzugehen, wenn wir uns nur als Mitglied der geistlichen Körperschaft Kirche fühlen. Zur Umsetzung bedarf es eines weltlichen Regiments. Aber das geistliche Regiment darf sich nicht nur mit der inneren Seelenpflege begnügen. Seine Leitvorstellungen brauchen wir in der Politik. Und gerade die Leitbilder vom Umgang in der Gemeinde sind hier hilfreich –- wenn wir mit Gemeinde nicht nur uns hier vor Ort verstehen. Die Gemeinde, der Leib Christi, ist eben gerade weltumspannend. Wenn diese universalen Leitbilder gepflegt werden, können sie auch die Politik beeinflussen. Dann kann eine politische Umsetzung von globaler Gerechtigkeit den Zerfall in einzelne oder private Interessen abwehren. Dazu können Christinnen und Christen in friedensstiftenden Handlungen anregen. Gerade weil wir Leib Christi sind -– und jede und jeder von uns ein Glied ist.

Der Friede Christi,
zu dem ihr berufen seid in einem Leibe,
regiere in euren Herzen.
Amen.

Dipl.-Theol. Andreas Baumann