Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich bin sehr froh, heute hier sprechen
zu dürfen, da auch meine Biographie davon geprägt ist, was vor 80 Jahren hier
in Deutschland geschehen ist. Ich bin Angehöriger der dritten Generation von
Shoah-Überlebenden, zwei meiner Großeltern waren in Auschwitz, und ich kann mir
ungefähr vorstellen, wie sie darauf reagieren würden, dass ich, ihr Enkelkind,
eine Rede anlässlich des Jahrestages der Novemberpogrome 1938 halte. Auf
deutsch. In Berlin. In einer Kirche.
Ich bin sicher, sie wären nicht sonderlich glücklich
darüber, sie würden mir vermutlich noch einmal erzählen, wie viele unserer
Verwandten durch Deutsche ermordet wurden. Und wahrscheinlich würden sie mir
raten, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen. Und dass sie so fühlen,
ist nur allzu verständlich. Und trotzdem: Ich lebe nun seit 4 Jahren in
Deutschland, ich studiere, unterrichte und arbeite in Jüdischen Gemeinden – es
ist sicher nicht alles perfekt hier, aber mir geht es hier gut und ich habe die
Hoffnung, dass es noch besser werden kann.
Bei uns zuhause musste niemand das Wort „Holocaust“ oder
„Shoah“ benutzen – wenn wir nur einfach vom „Krieg“ sprachen, war jedem klar,
dass damit der Zweite Weltkrieg bzw. die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten
gemeint war.
Meine Großmutter hat eigentlich niemals mit uns darüber
gesprochen, was sie „im Krieg“ erlebt hatte, und auch mein Großvater
erzählte nur wenig, und das auch nur zwei Mal im Jahr: an Pessach und an Tisha
be-Av.
Warum ausgerechnet zu diesen beiden Gelegenheiten? Zu Tisha
be-Av gedenken wir der Zerstörung beider jüdischen Tempel, im Laufe der
jüdischen Geschichte passierten an diesem Datum viele Tragödien, und so ist es
passend, an diesem Tag noch einer weiteren, schrecklichen Tragödie zu erinnern.
Mit Pessach verhält es sich etwas anders: An Pessach danken
wir Gott dafür, dass er die Israeliten vor den Ägyptern rettete und sie durch
die Wüste führte. Und so dankte mein Großvater für die Wunder, die ihm
geschehen waren und die ihn den Holocaust haben überleben lassen.
Hier in Deutschland komme ich immer wieder in die Situation,
dass Freunde oder auch fremde Menschen mir verschämt erzählen, dass ihre Eltern
oder Großeltern Nazis waren. Vielleicht nicht gerade wichtige Männer im System,
aber doch das, was man hier als „Mitläufer“ bezeichnet. Und ich kann nicht
sagen, dass es mich nicht berührt zu wissen, dass die Vorfahren der meisten
Menschen, denen ich jeden Tag begegne, nichts dagegen unternommen haben, als
grausames Unrecht in Deutschland geschah. Aber ich denke, dass Veranstaltungen
wie diese ein positives Zeichen sind: Menschen kommen zusammen, sie
reflektieren, was passiert ist, wie es passieren konnte. Und sie
versuchen einen Weg zu finden, damit so etwas nie wieder passieren kann.
Ich bin dankbar, hier sein zu dürfen! Ich bin dankbar, ein
Teil davon zu sein, dass die Enkelkinder von Nazis und die Enkelkinder von
Überlebenden zusammensitzen können und ein gemeinsames Ziel haben: den
Antisemitismus zu bekämpfen, Rassismus und Intoleranz zu verhindern; wir wollen
nicht aufgrund von Hass oder Wut unsere Menschlichkeit und Mit-Menschlichkeit
vergessen! Und davon bin ich überzeugt – und das besonders nach dem jüngsten
antisemitischen Angriff in Pittsburgh, bei dem 11 unschuldige Menschen getötet
und viele weitere verletzt wurden. Wir müssen das Unrecht entschlossen und
möglichst früh bekämpfen, aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass wir
alle Menschen sind und menschlich bleiben wollen.
Was also können wir tun? Ich denke, wir sind schon auf dem
richtigen Weg: wir können uns weiterhin gegenseitig in unsere Häuser und unsere
Gotteshäuser einladen, wir sollten uns weiterhin gegenseitig unterstützen und
weiterhin daran arbeiten, den Hass zu bekämpfen.
Und wir können weiterhin hoffen und beten, dass sich die
Worte aus Levitikus 26,6 erfüllen:
ונתתי שלום בארץ ושכבתם ואין מחריד והשבתי חיה רעה מן הארץ וחרב לא תעבר בארצכם.
Ich schaffe Frieden im Land: Ihr legt euch nieder und
niemand schreckt euch auf. Ich lasse die Raubtiere aus dem Land verschwinden.
Kein Schwert kommt über euer Land.
Vielen Dank.