Predigt von Akiva Weingarten am 11.11.2018 in der St. Nikolai-Kirche Berlin-Spandau

Sehr geehrte Damen und Herren,

 Ich bin sehr froh, heute hier sprechen zu dürfen, da auch meine Biographie davon geprägt ist, was vor 80 Jahren hier in Deutschland geschehen ist. Ich bin Angehöriger der dritten Generation von Shoah-Überlebenden, zwei meiner Großeltern waren in Auschwitz, und ich kann mir ungefähr vorstellen, wie sie darauf reagieren würden, dass ich, ihr Enkelkind, eine Rede anlässlich des Jahrestages der Novemberpogrome 1938 halte. Auf deutsch. In Berlin. In einer Kirche.

Ich bin sicher, sie wären nicht sonderlich glücklich darüber, sie würden mir vermutlich noch einmal erzählen, wie viele unserer Verwandten durch Deutsche ermordet wurden. Und wahrscheinlich würden sie mir raten, dieses Land so schnell wie möglich zu verlassen. Und dass sie so fühlen, ist nur allzu verständlich. Und trotzdem: Ich lebe nun seit 4 Jahren in Deutschland, ich studiere, unterrichte und arbeite in Jüdischen Gemeinden – es ist sicher nicht alles perfekt hier, aber mir geht es hier gut und ich habe die Hoffnung, dass es noch besser werden kann.

Bei uns zuhause musste niemand das Wort „Holocaust“ oder „Shoah“ benutzen – wenn wir nur einfach vom „Krieg“ sprachen, war jedem klar, dass damit der Zweite Weltkrieg bzw. die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten gemeint war.

Meine Großmutter hat eigentlich niemals mit uns darüber gesprochen, was sie „im Krieg“ erlebt hatte, und auch mein Großvater erzählte nur wenig, und das auch nur zwei Mal im Jahr: an Pessach und an Tisha be-Av.

Warum ausgerechnet zu diesen beiden Gelegenheiten? Zu Tisha be-Av gedenken wir der Zerstörung beider jüdischen Tempel, im Laufe der jüdischen Geschichte passierten an diesem Datum viele Tragödien, und so ist es passend, an diesem Tag noch einer weiteren, schrecklichen Tragödie zu erinnern.

Mit Pessach verhält es sich etwas anders: An Pessach danken wir Gott dafür, dass er die Israeliten vor den Ägyptern rettete und sie durch die Wüste führte. Und so dankte mein Großvater für die Wunder, die ihm geschehen waren und die ihn den Holocaust haben überleben lassen.

Hier in Deutschland komme ich immer wieder in die Situation, dass Freunde oder auch fremde Menschen mir verschämt erzählen, dass ihre Eltern oder Großeltern Nazis waren. Vielleicht nicht gerade wichtige Männer im System, aber doch das, was man hier als „Mitläufer“ bezeichnet. Und ich kann nicht sagen, dass es mich nicht berührt zu wissen, dass die Vorfahren der meisten Menschen, denen ich jeden Tag begegne, nichts dagegen unternommen haben, als grausames Unrecht in Deutschland geschah. Aber ich denke, dass Veranstaltungen wie diese ein positives Zeichen sind: Menschen kommen zusammen, sie reflektieren, was passiert ist, wie es passieren konnte. Und sie versuchen einen Weg zu finden, damit so etwas nie wieder passieren kann.

Ich bin dankbar, hier sein zu dürfen! Ich bin dankbar, ein Teil davon zu sein, dass die Enkelkinder von Nazis und die Enkelkinder von Überlebenden zusammensitzen können und ein gemeinsames Ziel haben: den Antisemitismus zu bekämpfen, Rassismus und Intoleranz zu verhindern; wir wollen nicht aufgrund von Hass oder Wut unsere Menschlichkeit und Mit-Menschlichkeit vergessen! Und davon bin ich überzeugt – und das besonders nach dem jüngsten antisemitischen Angriff in Pittsburgh, bei dem 11 unschuldige Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Wir müssen das Unrecht entschlossen und möglichst früh bekämpfen, aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass wir alle Menschen sind und menschlich bleiben wollen.

Was also können wir tun? Ich denke, wir sind schon auf dem richtigen Weg: wir können uns weiterhin gegenseitig in unsere Häuser und unsere Gotteshäuser einladen, wir sollten uns weiterhin gegenseitig unterstützen und weiterhin daran arbeiten, den Hass zu bekämpfen.

Und wir können weiterhin hoffen und beten, dass sich die Worte aus Levitikus 26,6 erfüllen:

ונתתי שלום בארץ ושכבתם ואין מחריד והשבתי חיה רעה מן הארץ וחרב לא תעבר בארצכם.

Ich schaffe Frieden im Land: Ihr legt euch nieder und niemand schreckt euch auf. Ich lasse die Raubtiere aus dem Land verschwinden. Kein Schwert kommt über euer Land.

Vielen Dank.