29.4.2009: Mk. 10,34-45 — Baumann

Sonntag Judika 2009,
Predigttext: Mk 10, 35-45 (I. Reihe), »Die Zebedaidenfrage«

Gnade sei mit euch
und Frieden von GOtt, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.

Liebe Gemeinde!

Wenn Kinder etwas unbedingt möchten, dann kommen sie so: Mami, Papi, sag ja. Sag doch ja. Und wenn die Mutter oder der Vater Ja gesagt hat, erst dann rücken sie mit ihrem eigentlichen Wunsch heraus. Vielleicht, weil sie in tiefster Seele wissen, daß der Wunsch jetzt unpassend oder zu groß ist. Aber er ist so bedrängend, daß er unbedingt heraus muß und unbedingte Zustimmung braucht. Sag doch ja!
So kommen auch die beiden Brüder Jakobus und Johannes mit einer Bitte. Genau wie wir es von Kindern kennen, so kommen sie zu Jesus: Meister, wir wollen, daß du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Sehr bedrängend muß der Wunsch für die beiden gewesen sein. Und so fragt Jesus nach: Was wollt ihr denn, daß ich für euch tun soll? Da sagen sie zu ihm: Verleihe uns, daß wir zu deiner Rechten und zu deiner Linken sitzen dürfen in deiner Herrlichkeit.
Jetzt ist es heraus. Jesus geht dem Tod entgegen. In den vorangehenden Versen hat er sein Leiden, Sterben und seine Auferstehung den Jüngern vorausgesagt. Da ist es angebracht, daß die beiden jetzt ihren großen Wunsch, ihren Lebenswunsch rechtzeitig angemeldet haben. Besser es wird vorher gesagt, wer was haben will, es wird festgelegt, wer welche Dinge erbt, als daß es nachher ewig Streit und Enttäuschung gibt. Gut, das schon geregelt zu haben.
In mir weckt das zweierlei Gefühle. Einerseits ist diese Bitte der beiden Söhne des Zebedäus ziemlich dreist. Solches Sicherheitsdenken wirkt auf mich unverschämt. Sie erwarten von Jesus die Zusage, daß gerade sie die Ehrenplätze an seiner Seite einnehmen, sobald sich Christi Herrlichkeit offenbaren wird. Sie sind davon überzeugt, daß es nicht mehr lange dauern könne und Jesus vor den Augen aller Menschen offenbaren wird, wer er eigentlich ist. Als Messias wird er in GOttes Vollmacht die Erde verwandeln und erneuern. Und wenn das geschieht, dann wollen sie die Plätze einnehmen, die ihnen, so meinen sie wohl, zustehen. Sie gehören ja mit zu den ersten, die dem Ruf Jesu gefolgt sind. Sie haben alles verlassen, Haus und Familie und Freunde, nur um bei Jesus zu sein. Und er hatte sie ja auch gelegentlich bereits mit besonderen Aufgaben betraut.
Andererseits zeigt mir dies gerade, daß aus ihrer Bitte sehr unterschiedliche Motive sprechen. Da ist die große Sehnsucht nach GOttes kommendem Reich, dem Reich der Gerechtigkeit und des Friedens; und da ist der glühende Wunsch, mit ihrem Herrn unlösbar verbunden zu sein für alle Zeit. Die Jünger können sich mit ihrem Anspruch dabei auf Jesu eigene Worte stützen, hatte er doch — wie wir aus der Bergpredigt wissen — unmißverständlich gesagt: Trachtet zuerst nach dem Reich GOttes und nach seiner Gerechtigkeit, sodann wird euch das Übrige zufallen. Ja, sie haben diese Worte ernst genommen und wollen sie beherzigen. Nichts wollen sie versäumen, wenn es darum geht, den in Aussicht stehenden Lohn dafür einzustreichen, daß sie ja alles verlassen hatten, um mit Jesus den risikoreichen Weg des gemeinsamen Gehorsams gegenüber GOtt anzutreten.
Und dieser Wunsch, auch in der Herrlichkeit Jesu nahe zu sein, ist ganz menschlich und mir deshalb verständlich. Jede und jeder von uns hat in einem Winkel des Herzens verborgene Träume vom ersten Platz und von Sicherheit — auch in religiöser Hinsicht. Wer von uns würde nicht gern direkt aus Jesu Mund hören: Eure Bitte wird erfüllt. Ihr werdet in meiner Herrlichkeit in meiner Nähe sein. Wir haben diese Sehnsucht, und ganz falsch kann sie nun nicht sein, denn sie beflügelt ja auch. Sie ist eine Kraft, die uns antreibt.
Aber daneben spielt bei den beiden Zebedaiden eben doch auch der Ehrgeiz eine Rolle und der Geltungsdrang, der nach einer Auszeichnung gegenüber allen anderen verlangt. Und da ist die Ungeduld, die heute schon garantiert haben möchte, was sie sich als Krönung aller eigenen Mühen für die Zukunft erhofft.
Jesus hört dies offenbar alles aus den Worten der beiden heraus. Seine Antwort ist deshalb zunächst eine sehr ernüchternde Feststellung: Ihr wißt nicht, was ihr bittet. Und dann folgt die Gegenfrage: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?
Jesus drückt sich da schwer verständlich und etwas rätselhaft aus. Aber die beiden Jünger verstehen sofort, worum es geht: Wer sich taufen läßt, erklärt sich damit bereit, wie Jesus zu leiden — im Vertrauen auf die Auferstehung. Und wer den Kelch von ihm annimmt und mit ihm daraus trinkt, der bekennt sich dazu, Christus durch den Tod ins Leben zu folgen. Jesus fragt sie nicht danach, ob sie sein Schicksal mit ihm teilen wollen — natürlich wollen sie -, sondern er fragt sie, ob sie das auch können. Das ist in der Tat eine Frage, die nicht ausgeklammert werden darf, wenn es um das Bekenntnis zu Jesus Christus geht. Bei uns scheint derartiges zwar nicht aktuell zu sein. Daß Christentum und Kirche heute aber nicht gerade Hochkonjunktur feiern, ist offenkundig. Es gibt nicht wenige, die der Initiative ProReli mit äußerster Verachtung gegenüberstehen. Das wäre noch vor dreißig Jahren undenkbar gewesen. Und anderswo in der Welt ist es noch immer abenteuerlich oder gefährlich, sich zu Christus zu bekennen.
Die beiden Söhne des Zebedäus sind sich da ganz sicher: Ja, das können wir, sagen sie.
Wie können sie nur so etwas sagen, wo es doch ums Sterben geht? Jakobus und Johannes trauen sich das zu. Ja, sie können Jesus bis zu Ende begleiten. Wer von uns würde das schon so von sich sagen können? Fast beneide ich die beiden um ihre Selbstsicherheit, daß sie da gar keine Zweifel kennen. Ich wäre mir da noch nicht einmal so sicher. Was wäre, wenn ich in eine ausweglose Situation käme? Wäre ich da wirklich in der Lage, die Hilflosigkeit auszuhalten, auf meine vitalsten Bedürfnisse zu verzichten? — Aber würde ich nicht dennoch gerade erst recht sagen: Ich kann es. Ich bleibe bei dir. Mit der Zuversicht, daß mir GOtt die Kraft geben wird?! So werden die Jünger ganz fest daran geglaubt haben, daß sie es tatsächlich können.
Und Jesus bestätigt ihnen, was sie sagen. Ja: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde.
Jesus macht hier den beiden und uns allen nichts vor. Es wird uns nicht versprochen, daß wir in unserem eigenen Leiden und Sterben immer begleitet und verständnisvoll getragen werden, daß wir ganz umhüllt werden von Liebe und Geborgenheit. Das wird einer Christin, einem Christen nicht zugesagt. Und wir wären auch bitter enttäuscht, wenn wir damit rechneten und einen Anspruch darauf hegten. Die Jünger hatten ja eigentlich wissen wollen, was sie dafür bekommen, daß sie Jesus nachfolgen. Jetzt wissen sie es: Es ist der Kelch Jesu. Sie werden ein ähnliches Schicksal wie Jesus erleiden, jeder für sich.
Aber damit ist noch nicht ihre Bitte beantwortet. Darum verweist er darauf, daß der Vater im Himmel allein Herrscher ist: Zu sitzen zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu verleihen, sondern es wird denen zuteil, denen es bereitet worden ist.
Jesus entzieht sich damit zunächst weiteren Anfragen der Bittsteller. Sie haben hoch gepokert und waren aufs Ganze gegangen. Jetzt erfahren sie, daß der Lehrling nicht über den Meister hinausragen kann. So wie der »Zauberlehrling« in Gœthes gleichnamigem Gedicht letztlich die eigene Unzulänglichkeit bitter spüren mußte, so spüren Jesu Jünger an seinem Hinweis auf GOttes Machtanspruch, daß das Reich GOttes kein Selbstbedienungsladen sein kann und der Wille GOttes höher greift als ihre Wünsche.
Trachtet zuerst nach dem Reich GOttes und nach seiner Gerechtigkeit — so hatten die Jünger die Worte Jesu im Gedächtnis. Was sollte es mit diesem Reich GOttes auf sich haben? Welche Regeln sollten gelten? Und schließlich: Worauf durfte jede und jeder hoffen? — Jesus war die Antwort schuldig geblieben. Er wendet sich nun noch einmal an seine Jünger. Diesmal an alle zwölf, denn er hatte gemerkt, daß es Ärger gab, weil Jakobus und Johannes die besten Plätze im Reich GOttes haben wollten.
Da rief Jesus seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wißt, daß die weltlichen Herrscher ihre Völker niederhalten und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Darin sind sich Jesus und seine Jünger offenbar einig. Die Rolle und das Verhalten der Machthaber ist klar. Da haben Jesus, seine Jünger und alle Israeliten der damaligen Zeit ihre Erfahrungen machen müssen:
Herodes, der Große, der König von Roms Gnaden, hatte einen außergewöhnlichen Prunk entfaltet. Er hatte den Tempel in Jerusalem in aufwendigster Weise restauriert und ausgebaut. Er hatte Festungen und Schlösser mit allem Luxus der antiken Welt anlegen lassen. Schon zu Lebzeiten ließ er sich ein schloßähnliches Mausoleum südlich von Bethlehem bauen, das Herodion. Woher hatte er das Geld dazu? Wie damals üblich hatte er dafür sein eigenes Volk ausgeplündert.
Pontius Pilatus hatte sich schon zur Zeit seines Einsatzes in der römischen Provinz Germanien einen Namen als hart durchgreifender Mann gemacht. Deshalb war er bestens für die stets unruhige Provinz Judäa geeignet. Hier griff er mit beispielloser Brutalität durch. Er war für hunderte von Kreuzigungen in kürzester Zeit verantwortlich.
Überhaupt galt für die Provinzen des römischen Reiches, daß der Pax Romana mit äußerster Strenge durchgesetzt wurde. „Friede“ im römischen Sinn kann besser mit „Todesstille“ übersetzt werden.
Aber die negative Einstellung zu Herrschenden hat auch bereits ein lange Tradition in der Hebräischen Bibel. So warnt schon Samuel das Volk vor den Einschränkungen der Freiheit nach Einführung des Königtums. Und in der Tat werden nur sehr wenige Könige in der Bibel positiv bewertet.
Somit waren sich Jesus und seine Jünger also in diesem Punkt einig, ohne erst darüber diskutieren zu müssen: Von den Fürsten dieser Welt läßt sich nichts Gutes erwarten. Sie wollen Macht und unterdrücken dazu ihre Völker.
Doch dann kommt Jesus zum Punkt: So ist es aber unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll der Knecht aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Er sagt zunächst ganz einfach: So ist es aber unter euch nicht. Im staatlichen Bereich, dort geht es doch immer nur darum, an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Einerlei, ob nun eine neue Weltordnung erreicht werden soll, ob eine Wahl oder Volksabstimmung zu gewinnen ist. Wir erleben es ja gerade wieder, daß die Volksabstimmung zu Religion oder Ethik vorverlegt wurde — mit dem offensichtlichen Ziel, daß weniger hingehen und die Regierungsparteien doch den Sieg davontragen. Die Methoden sind vielleicht feiner geworden, aber geändert hat sich grundsätzlich nicht viel. Das stellt Jesus fest und sagt dann: Unter euch soll es keine Machtkämpfe und Rangstreitigkeiten geben. Da soll keiner über den anderen bestimmen, keiner den anderen niederdrücken, nicht mit direktem Druck und erst recht nicht mit indirektem, moralischem Druck. Da soll niemand abgewertet, schlechtgemacht werden, als schlechterer Christ hingestellt werden.
Jesus sagt hier ganz klar, woran seine Gemeinde erkannt werden kann: Nicht an der besseren Moral, nicht am wahren Glauben, nicht an ihren Ämtern und Hierarchien, sondern allein daran, daß es in ihr kein Oben und kein Unten gibt, kein Befehlen und Gehorchen.
Wer zum Dienen bereit ist, ist groß! — Natürlich will hier unsere alltägliche Erfahrung widersprechen. Heutzutage steht mehr das Verdienen als das Dienen im Vordergrund. Und das ist ja auch nicht ganz nebensächlich. Wir alle brauchen unser Auskommen. Aber ob ein Menschenleben sinnvoll wird oder nicht, das hängt nicht von der Höhe des Einkommens ab. Die Sinnerfüllung eines Lebens hat sehr viel mit der Bereitschaft zum Dienen zu tun. Und die innere Größe eines Menschen zeigt sich letztlich darin, daß er freigeworden ist und er sich deshalb gerade an solchen Stellen einsetzt, wo weder großer Gewinn noch großer Ruhm zu erwarten sind. Da, wo wir mit äußerer Anerkennung nicht rechnen können, ist gerade Jesu Beispiel maßgebend. Er hat sein Leben nicht verstanden als Gelegenheit, Ansprüche zu stellen und auszuleben.
In tiefster Seele träumen wir doch wohl alle von einer Gemeinschaft, in der wir unsere Gaben voll entfalten können — und was wir nicht haben, das haben andere. Wo wir so sein können, wie es uns möglich ist. Da werden wir nicht bevormundet und gedemütigt. Da brauchen wir uns nicht mühsam hochzudienen. Da brauchen wir uns nicht eine Rolle zu erarbeiten. Da können wir einfach zusammenleben wie wir sind. So sollten wir als Jesu Jüngerinnen und Jünger zusammenleben. Das war sein Wunsch.
Vielleicht mag es Ihnen jetzt durch den Kopf gehen, wie weit wir in den Kirchen davon entfernt sind. Wie wenig bis heute gerade dieses Wort Jesu befolgt worden ist. Wie da immer wieder der Ehrgeiz blüht und der Kampf um Macht und Ansehen stattfindet.
Ich zitiere einige „Orientierungs- und Nachdenksätze“ der Alt-Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter aus Nordelbien:

  • Gib dir Rechenschaft über die Rechtmäßigkeit der Macht, die du besitzt. Ist es gerechte Macht? Setze sie für das Reich GOttes und seine Gerechtigkeit, also für die ,Schwachen‘ ein.
  • ,Dienen‘ bedeutet nicht, Verzicht auf eine eigene Meinung, sondern erfordert profilierte Stellungnahme im Interesse der Schwachen.
  • Prüfe selbstkritisch den Gebrauch äußerer Zeichen der Macht. Vermeide alle Maßnahmen, die Distanz schaffen zwischen den Schwestern und Brüdern.
  • Bemühe dich um ,Demut‘ in deinem Leben.
  • Laß dich nicht bedienen.

Das sind einige Leitlinien, die uns helfen können, einen anderen Weg zu gehen. Jesus hat diesen anderen Weg gewählt. Den Weg der Ohnmacht, ohne Macht. Da mochten die äußeren Bedingungen sein wie sie wollten — er hat seine Macht nicht für sich eingesetzt. Und als er diesen Weg ganz zu Ende gegangen war, fing ein neues Leben an. Ein Leben, das wir jetzt schon im Diesseits mit ihm teilen sollen in seiner Gemeinschaft — wenn wir mit all unseren Gewaltversuchen und Machtmitteln am Ende sind. Denn wer da hingibt, der empfängt; wer sich selbst vergißt, der findet; wer verzeiht, dem wird verziehen; und wer da stirbt, der erwacht zum ewigen Leben. Das wir uns immer wieder im Glauben darauf einlassen können, das wünsche ich uns allen.

Und der Friede GOttes,
welcher ist höher als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Dipl.-Theol. Andreas Baumannn